Von Hitlers Herberge zum Seniorenschlössel
Vor 120 Jahren wurde in der Brigittenau Europas modernstes Obdachlosenheim eröffnet. Später litt es unter seinem schlechten Ruf – und mit ihm die ganze Straße.
Text: Bernhard Odehnal

Im März 1900 wurde der nördliche Teil der Leopoldstadt abgetrennt und zum 20. Wiener Gemeindebezirk. Für den 2. Bezirk war das freilich eher Erleichterung als Verlust. Denn der neue Bezirk mit Namen „Brigittenau“ war das Armenhaus der Stadt, geprägt von Bretteldörfern und Zinshäusern, in denen sich mehrere Familien eine Wohnung teilen mussten. Wer das Elend des werktätigen Volkes schauen wolle, der müsse in die Brigittenau, schrieb damals der für seine Sozialreportagen bekannte Journalist Max Winter.
Um die Obdachlosigkeit zu bekämpfen, die in der Brigittenau besonders hoch war, finanzierte die „Kaiser Franz Josef I. Jubiläumsstiftung“ den Bau eines Männerheims in der Meldemannstraße. Bei seiner Eröffnung 1905 wurde es von der Presse als „Wunder an Eleganz und Billigkeit“ und als „himmlische Unterkunft“ gefeiert.
Es gab keine Schlafsäle. Jeder Bewohner hatte eine eigene Koje mit Bett, von den Nachbarn getrennt durch eine zwei Meter hohe Wand. Es gab großzügig dimensionierte Waschräume, einen Arzt, eine Kantine mit billigen Mahlzeiten und – was damals besonders hervorgehoben wurde – es gab in allen Räumen elektrisches Licht.
Seinen schlechten Ruf bekam das Heim erst viel später. Und das hat sehr viel mit einem besonders üblen Bewohner zu tun.
In der Meldemannstraße hielt Hitler endlose Monologe
1910 bezog der damals 21-jährige Adolf Hitler eine Koje in der Meldemannstraße. Die Akademie der bildenden Künste hatte ihn zu jener Zeit bereits zweimal abgelehnt. Er hatte kein Geld mehr und konnte sich selbst die sehr günstige Wochenmiete im Heim nur leisten, weil er Postkarten mit Motiven Wiener Sehenswürdigkeiten malte. Bekannte aus dem Männerheim verkauften die Karten dann in Kaffeehäusern.
Hitler blieb ungewöhnlich lange in der Meldemannstraße, nämlich drei Jahre. Von den Nachforschungen der Historikerin Brigitte Hamann für ihr Buch „Hitlers Wien“ wissen wir, dass der junge Mann aus Braunau wenig Kontakt zu anderen Bewohnern hatte und sich lieber zurückzog und Zeitungen oder Bücher las. Wenn er aber doch redete, ging er seinen Nachbarn schnell mit endlos langen Monologen auf die Nerven. Im Mai 1913 erhielt er Geld aus dem Erbe seines Vaters, zog aus dem Männerheim aus und ging nach München.
Umbenennung in „Altersheim Zwischenbrücken“
Während des Ersten Weltkriegs wurde das Männerheim zur Erholungsstätte für verwundete Soldaten adaptiert. Unter der Nazi-Herrschaft bekam es den Namen „Wiener städtisches Altersheim Zwischenbrücken“. Nach 1945 wurde es wieder ein Obdachlosenheim für Männer – und blieb fast 60 Jahre lang wie es war. Modernisierungen oder Renovierungen wurden kaum noch gemacht. Die „Meldemannstraße“ wurde zum Schandfleck der Stadt. Was aber im Rathaus kaum jemanden störte. Zu weit weg von allem war dieses Eck der Brigittenau.

Lediglich Journalismus und Kunst begannen sich für den heruntergekommenen Bau und seine Bewohner zu interessieren. 2002 und 2003 fanden im Heim mehrere Aufführungen von George Taboris Theaterstück „Mein Kampf“ statt. Das Stück spielt tatsächlich im Männerheim und handelt von der (fiktionalen) Freundschaft des jungen Hitler mit dem Juden Schlomo Herzl, der ihn zum Politiker macht und ihm den Titel seines eigenen Romans überlässt: „Mein Kampf“.
Das echte Leben im Heim zeigte dann die ORF-Journalistin Elizabeth T. Spira 2003 in einer ihrer mittlerweile legendären „Alltagsgeschichten“. Die Folge ist auf YouTube zu sehen. Im selben Jahr wurde das Männerheim geschlossen. Für wohnungslose Männer gibt es seither nur noch kleinere Fürsorgeeinrichtungen, verteilt über die ganze Stadt.
Einzelzimmer statt Schlafkojen
Das Gebäude in der Meldemannstraße wurde von der Gemeinde Wien an einen privaten Betreiber von Seniorenheimen verkauft. Die „wie daham“-Pflegeheim- und Pflegedienstleistungsgesellschaft sanierte den denkmalgeschützten Trakt, legte die Kojen zu größeren Wohneinheiten zusammen und baute ein zweites Haus dazu.
Statt den etwa 550 Betten für wohnungslose Männer gibt es im Haus heute 159 Einzel- und 15 Doppelzimmer. Der Eingang wurde von der Meldemannstraße ums Eck in die Winarskystraße verlegt und der gesamte Gebäudekomplex in „Seniorenschlössel Brigittenau“ umbenannt.

Der Versuch, das Gebäude in der Meldemannstraße von seiner düsteren Geschichte zu trennen, ist nicht neu. Schon Hitler selbst wollte nach seinem Aufstieg zum „Führer“ die Erinnerung an seine Zeit im Männerheim komplett auslöschen. Meldezettel und andere Akten wurden beschlagnahmt und vernichtet. In damaligen Biographien tauchte stattdessen eine Kleinwohnung im bürgerlichen 9. Bezirk auf. Aber dort habe Hitler „nie gewohnt“, schrieb die Historikerin Hamann im Vorwort zum Fotobuch „Haus Meldemannstraße“ (Czernin-Verlag 2003).
Der Versuch, die Erinnerung zu löschen, misslang. Der Name Meldemannstraße wird wohl auf immer mit dem Namen des Diktators verbunden bleiben. Nicht nur in den Geschichtsbüchern. Auf ein Eisentor des ehemaligen Männerheims hat jemand offenbar erst unlängst auf Russisch den Satz „Гитлер лох“ geschrieben. Übersetzt: „Hitler ist ein Trottel“.
Bernhard Odehnal lernte Journalismus bei der Stadtzeitung „Falter“ und war danach als Korrespondent und Reporter für österreichische und Schweizer Medien tätig. 2025 kehrt er mit der Gründung von „Zwischenbrücken“ in den Lokaljournalismus zurück. Er lebt in der Leopoldstadt.