Bis 1974 verband die Straßenbahnlinie 11 auf der Engerthstraße die Bezirke 2 und 20. Kaum eine andere Gegend Wiens hat sich seither so radikal verändert.
Text: Bernhard Odehnal
Bald gibt es bei uns eine neue Straßenbahn: die Linie 12. Sie wird im Herbst 2025 eröffnet und dann über die Vorgartenstraße und die Dresdnerstraße die Leopoldstadt mit der Brigittenau verbinden, von wo sie dann weiter über den Donaukanal bis zur U-Bahn-Station Josefstädter Straße fährt. Kurze Fahrzeiten, Flexibilität, gute Umsteigemöglichkeiten – all das soll sie uns laut „Wiener Linien“ bringen.
Freilich: Ganz so neu ist eine Straßenbahn-Verbindung von 2. und 20. Bezirk nicht. Bis 1974 verkehrte die Straßenbahnlinie 11 vom Friedrich-Engels-Platz durch die Engerthstraße, vorbei an der Reichsbrücke und dem Praterstadion, und weiter durch die Wehlistraße bis zur Stadlauer Brücke.
Verbindung zu den Volkswohnhäusern
Gebaut wurde diese Linie erst 1923. In wirtschaftlich katastrophalen Zeiten brauchte das Rote Wien Projekte, um Arbeitsplätze zu schaffen. Außerdem waren nahe der Ostbahnbrücke an der Donau neue Gemeindebauten geplant. Fertiggestellt wurden diese „Volkswohnhäuser“ 1930. Sie stehen heute noch.
Seither blieb entlang des historischen Elfers kaum ein Stein auf dem anderen. Die Gegend verändert sich rasant: Heute entstehen in der Engerthstraße neue Büros, Hochhäuser und Supermärkte. Vor allem im Leopoldstädter Teil wurde die Straße deutlich aufgewertet und teilweise verkehrsberuhigt.
Bis in die 1970er Jahre war das Gebiet hingegen trist und grau, von Industrie und Verkehrsbauten geprägt. Wer am Friedrich-Engels-Platz in den 11er einstieg, fuhr an Wiener Industriegeschichte vorbei. Zum Beispiel an den mächtigen Ziegelbauten der Siemens-Schuckert-Werke. Um 1900 war das die größte und modernste Elektrofabrik in der Monarchie. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier viele Eisenbahn- und Straßenbahnfahrzeuge elektrisch ausgerüstet. Anfang der 1970er Jahren wurde der imposante Industriekomplex abgerissen und an seiner Stelle der „Robert-Uhlir-Hof“ errichtet – ein Gemeindebau, benannt nach einem sozialdemokratischen Abgeordneten.
Kühlhaus und Kraftwerk verschwanden
Oder das Dampfkraftwerk Engerthstraße, das bis in die 1960er Jahre einen Teil der Stadt mit Strom versorgte. Seine fünf Schlote waren für die Leopoldstadt ebenso markant wie die nahegelegene Franz-von-Assisi-Kirche auf dem Mexikoplatz. Auch von diesem einst so wichtigen Energieversorger blieb kein Stein als Erinnerung. Hier wurde ein zwölfstöckiger Gemeindebau errichtet, in der typischen Fertigteilbauweise der 1970er Jahre.
Abgerissen wurde auch das große Kühlhaus der Gemeinde Wien in der Engerthstraße. In den 1970er und 80er Jahren hatte die Wiener Stadtregierung keinerlei Interesse am Erhalt seines industriellen Erbes. Eine Nachnutzung wäre wohl möglich gewesen, aber es war einfacher, alles abzureißen. An der Stelle des Kühlhauses steht heute ein Pensionistenheim.
Erhalten blieb hingegen ein kleiner Teil der ehemaligen Straßenbahnremise Vorgarten. Der riesige Straßenbahn-Bahnhof zwischen Engerth- und Vorgartenstraße wurde mit dem Neubau der Reichsbrücke und der Verlängerung der U1 Anfang der 1980er Jahre aufgelassen. Eine einzige Ziegelhalle blieb stehen, hier befinden sich heute ein Supermarkt und ein Autoparkplatz.
Trams aus New York
Im Bahnhof Vorgarten war nach dem zweiten Weltkrieg bis in die späten1960er Jahre eine besondere Gattung von Wiener Straßenbahnen untergebracht: Die sogenannten „Amerikaner“.
Als die Stadt New York 1948 ihr Straßenbahnnetz aufließ, verkaufte sie – im Rahmen des Marshallplans – 42 Wagen nach Wien. Die sahen nicht nur ganz anders aus. Sie hatten einige Besonderheiten, welche die Wiener Fahrgäste von ihrer alten Tramway nicht kannten: Statt offener Plattformen gab es elektrisch verschließbare Türen. Und die Lehnen der Sitzbänke konnten umgelegt werden – je nach Fahrtrichtung. Allerdings waren die „Amerikaner“ für das Wiener Straßenbahnnetz eine Spur zu breit und konnten deshalb nur auf wenigen Strecken eingesetzt werden. Vor allem auf der Linie 11.
Im Schneckentempo durch die Engerthstraße
Sehr schnell war man mit dem Elfer nicht unterwegs. Die Linie war großteils eingleisig, und das bedeutete: Ausweichen, auf denen man Gegenzüge abwarten musste. Außerdem gab es mehrere Kreuzungen mit Eisenbahnstrecken. Dort mussten die Schaffner aussteigen und Ausschau nach Zügen halten. Erst dann durfte die Bim weiterfahren.
Eine dieser Eisenbahnkreuzungen war 1974 offiziell der Grund für die Einstellung der Linie 11. Tatsächlich galt die Straßenbahn in Wien damals generell als altes Klumpert. Die Stadtregierung wollte eine autogerechte Stadt. Schienen störten da nur. Seither verkehren in der Engerthstraße die Busse 11A und 11B. In der Straße wurde viel Platz für Autoparkplätze geschaffen und ein Radweg gebaut, der heute allerdings viel zu schmal ist.
Auf dem östlichen Streckenteil der Linie 11 bis zur Stadlauerbrücke fuhr die Tramlinie 21 noch länger. Mit der Verlängerung der U 2 wurde 2008 auch sie eingestellt, die Gleise wurden in Rekordtempo entfernt. Aus heutiger Sicht war das eine Fehlentscheidung, denn auf diesen Gleisen könnte die neue Linie 12 heute bis zum Praterstadion fahren. So aber verendet der Zwölfer nun mitten im Stuwerviertel, ohne Anschluss an die U-Bahn.
Parkplätze waren wichtiger
Noch eine andere Chance wurde leider vertan: Vor ein paar Jahren gab es den Plan, die Straßenbahnlinie O aus dem neuen Nordbahnviertel über die Engerthstraße bis zum Friedrich-Engels-Platz zu führen. Also genauso, wie einst die historische Linie 11. Doch dieses Projekt scheiterte am heftigen Widerstand der Brigittenauer Bezirksvorstehung. Sie wollte in der Engerthstraße keine Autoparkplätze opfern.
Eine Linie 11 gibt es Wien dennoch wieder: Seit 2019 fährt der neue Elfer von Favoriten nach Simmering. Er ist Wiens längste Straßenbahnlinie, 13 Kilometer aus dem Wienerfeld bis nach Kaiserebersdorf. Allerdings ist das leider weit weg von Zwischenbrücken.
Bernhard Odehnal lernte Journalismus bei der Stadtzeitung „Falter“ und war danach als Korrespondent und Reporter für österreichische und Schweizer Medien tätig. 2025 kehrt er mit der Gründung von „Zwischenbrücken“ in den Lokaljournalismus zurück. Er lebt in der Leopoldstadt.