Vom leicht verstaubten „Capri“ zum Pionier einer nachhaltigen Hotelerie: Die Geschichte einer erstaunlichen Verwandlung in der Leopoldstadt
Text: Isabella Marboe, Fotos: Christopher Mavrič

Jahrzehnte lang wehte über die Praterstraße 44-46 ein Hauch von Capri. So hieß das dortige Hotel, bis Henriette das Heft übernahm. Die erste Gattin des Walzerkönigs Johann lebte vier Häuser weiter, nach ihr benannten Verena Brandtner-Pastuszyn und ihr Mann Georg Pastuszyn das Hotel, das sie 2008 in zweiter Generation übernommen haben. „Es war sehr gediegen, aber altmodisch, meiner Oma hätte es gefallen“, erinnert sich Verena. „Die Zimmer waren typisch 1980er, sie hatten Spannteppiche und Buchenholzmöbel mit wilden Farben und wilden Mustern.“
Henriette übernahm die Stafette
Die beiden setzten immer konsequenter auf Nachhaltigkeit – auch wenn auf diesem Weg das Capri verloren ging. Henriette übernahm die Stafette. Inzwischen hat das Hotel die sogenannte “Cradle-to-Cradle” Zertifizierung bekommen. Das heißt, dass Materialien so weit wie möglichst wieder- oder weiterverwendet, umgewandelt, aufgewertet, aber nicht weggeworfen werden.
Hier lebt man die also Kreislaufwirtschaft. Und nicht nur: Inzwischen hat man bei einem Alleinstellungsmerkmal angelangt: Das Henriette ist das erste Gemeinwohl-Hotel Wiens und das erste mit „Circular-Living-Zimmer“. Das bedeutet, dass alle Materialien biologisch und die Möbel zerlegt und wiederverwertbar sind.

Begonnen hatte alles damit, dass Brandtner-Pastuszyn ihren Gästen ein gesundes Schlaferlebnis bieten wollte. Das heißt: keine Chemie, keine synthetischen Fasern, kein Polyester, dafür Naturbettware. Hier sind Decken aus Mais, Pölster aus Bioleinen oder Biowolle. Denn laut der Forschung des „Fraunhofer Instituts“ ist der Faserabrieb beim Waschen von Textilien und Kunststoffen auf Rang zehn unter den Verursachern von Mikroplastik in der Natur. Um das Wasser nicht zu belasten, wird mit ultra-heißem Trockendampf gereinigt
Versammlung der Geistesgrößen
Jeder Stock ist einem anderen Wiener Thema gewidmet, im fünften Stock sind die Geistesgrößen versammelt. Zimmer 509 ist nach Adolf Loos benannt. Das Betthaupt ist aus Fischernetzen, für einen neuen Look genügt es, es auszutauschen. „Was meinen Sie, was das ist?“, fragt Verena erwartungsvoll und zeigt auf die Waschtischplatte im Bad. Ein schönes Material in einer schönen Farbe, dunkelgrün, mit weiß-schwarzen Einsprengseln. Corian in Terrazzooptik? Nein, es sind upgecycelte Kühlschrankteile aus der Ukraine. Es ist eine von rund 170 Nachhaltigkeitsmassnahmen im Hotel.
Das schlichte Haus stammt aus den frühen 1960er Jahren, hatte Aluminiumfenster, Balkone, ein zartes Vordach. Geplant wurde es vom Architekten Eugen Wörle. Ihm und seinem Büropartner Max Fellerer hat Wien das Gänsehäufel zu verdanken. Die beiden prägten architektonisch die Nachkriegszeit in Wien, auch die Holzverkleidung des Sitzungssaals im Parlament ist von ihnen.
Von Polen in die Wiener Hotellerie
Ebenfalls in den frühen 1960er Jahren kam Jacek Pastuszyn aus Polen nach Wien. „Capri war absolut en vogue. Es gab den Ford Capri als Gegenstück zum amerikanischen Mustang und die Caprihose, die bei den Damen anliegend getragen wurde,“ erzählt Verenas Schwiegervater mit dem Anflug eines feinen Lächelns. Er ist ein Gentleman der alten Schule, der Damen den Vortritt lässt und ihnen – wie im Fall der Autorin – auch mit ausgesuchter Höflichkeit aus der Jeansjacke hilft. „In Polen bin ich nach zwei Jahren aus der Schule geflogen, die Hotelfachschule aber hab ich mit Auszeichnung abgeschlossen,“ erzählt er mit hörbarem Vergnügen.
In Wien begann er als Liftboy im heute nicht mehr existierenden Hotel Zentrum. „Da trug man ein Hemd mit Stehkragen und vierzehn Knöpfen, rief den Lift und war beim Aus- und Einsteigen behilflich.“ Er stieg zum Hilfsportier, dann zum Nacht- und weiter zum Tagportier auf. Im Hotel Albatros brachte er es bis zum Direktor-Stellvertreter, doch mit 54 Jahren verlor er seinen Job.

Beim AMS hörte Jacek Pastuszyn, dass er für seine Branche zu alt sei. Deshalb machte er sich selbstständig. Am 1. Jänner 1997 kaufte er das Hotel Capri mitsamt seiner Belegschaft, seine Gattin Annelie unterstützte ihn dabei. Auch sie ist eine echte Dame vom alten Schlag. „Für ihn habe ich meine gute Position als Chefsekretärin aufgegeben“, erzählt sie. „Es ist eine Geschichte von absolutem Mut“, sagt ihre Schwiegertochter.
Als das Hotel Capri in den 1960er Jahren eröffnet wurde, war die wirtschaftliche Situation sehr unsicher, erzählt Jacek Pastuszyn: „Man wollte nicht gleich das ganze Haus als Hotel führen. Im zweiten, dritten und vierten Stock gab es 36 Zimmer, darüber lauter Garconnieren.“ Jede freiwerdende Wohnung baute Jacek zum Zimmer um. Deshalb sind sie so groß. Er begann beim ersten Stock, das brachte elf zusätzliche Zimmer, dann verlegte er die Rezeption vom zweiten Stock ins Erdgeschoss, baute den Aufzug um und eine Klimaanlage ein. An die 70 Zimmer hatte es zuletzt, mit 65 Jahren übergab er das Hotel seinem Sohn Georg.
Expertise im Wohlfühlen
„Ich wollte etwas Gutes für die Umwelt und die Menschen tun“, sagt Verena. Putzkräfte tragen hier ihre Qualifikation deutlich sichtbar auf ihren dunkelroten T-Shirts: „Wohlfühlexperte“ steht da. Oder: „Wohlfühlexpertin“. Der respektvolle, wertschätzende Umgang mit Mitarbeitenden gehört zum Gemeinwohl dazu. Bilder von ihnen an ihren Lieblingsorten in Wien hängen im Haus. Gründerin Annelie und Gründer Jacek Pastuszyn posieren im Belvederegarten, die „Wohlfühlexpertin“ Anastasiia Ranika mag die Müllverbrennungsanlage in der Spittelau. Wer den Pfaden der Mitarbeitenden folgt, gewinnt einen neuen Blick auf Wien.

Im Jahr 2021 zog das Café und Bistro „Der schöne Ernst“ im Erdgeschoss ein. Die Bar in seiner Mitte verweist in Form und Farbigkeit auf die Zeit, als das Hotel Capri eröffnet wurde. Ihre hellgrünen Stäbe finden sich auch als Geländesprossen an der Wendeltreppe, die in die Rezeption im ersten Stock führt. Sie sind eine Referenz an den Architekten Eugen Wörle und sein Gänsehäufel.
Espresso im Glas
Mit dem kleinen Bistro und seinem Schanigarten setzt die Henriette ihren Fuß ins Grätzel. „Wir wollten etwas für unsere Nachbarschaft tun. Abends sind wir eine Aperitivbar, das gibt es hier noch nicht“, sagt Verena Brandtner-Pastuszyn.
Ein deutsches Pärchen unterhält sich bei einem Porridge, der mit seiner Obstgarnitur zur Schönheit erblüht , am Nebentisch sitzen zwei Leopoldstädterinnen beim Kaffee. Der Schanigarten ist gut besucht, das Service außerordentlich freundlich, der Espresso kommt stilgerecht im Glas. Eine junge Frau mit Kinderwagen betritt das Lokal, sie begrüßt Jacek freudig, beide plaudern ein wenig. Woher er sie kennt? „Sie hat schon bei uns als Stubenmädchen gearbeitet.“
Link: https://www.hotelhenriette.at/de/

Isabella Marboe
Isabella Marboe lebt, arbeitet und zeichnet als freie Architekturjournalistin in Wien. Sie betreibt den Blog www.genau.im, schreibt unter anderen für das „Spectrum“ der Presse und „die Furche“ und lehrt am Institut für Architektur und Entwerfen der TU Wien.