Sie schmieden am Nordpol Gold und Silber
Sechs junge Schmuckkünstlerinnen arbeiten für drei Monate in einem Ausweichquartier beim Augarten. Das Atelier ist winzig, das WC weit weg, doch sie schwärmen von der Camping-Atmosphäre.
Text und Fotos: Bernhard Odehnal

Was die Menschen so an Gold und Silber fasziniert? Johanna Gradauer hat sich diese Frage oft gestellt. Aber noch keine Antwort gefunden. Vielleicht habe es mit den Märchen zu tun, oder dem Glanz „wie Sonne und Mond“. Auf alle Fälle gehöre die Verarbeitung dieser Metalle zu Schmuck zu den ältesten Tätigkeiten der Menschheit, „noch älter als die Landwirtschaft“.
Zurzeit werden die glänzenden Ringe, Ketten und Broschen an der Grenze zwischen 2. und 20. Bezirk hergestellt. In der Nordpolstraße 1 löten, feilen und biegen sechs junge Frauen. Alle haben sie auf die eine oder andere Art das Handwerk des Goldschmiedens erlernt, und ihre eigenen Schmucklinien geschaffen – mit Namen wie „Zierkuss“, „Goldkäthe“ oder „FundstÜck“. Unter dem Namen „Schmuckatelier Neustiftgasse“ schlossen sie sich zu einer gemeinsamen Werkstatt mit Shop zusammen.
„Zierkuss“ und „Goldkäthe“
Will jetzt jemand einwenden, dass die Neustiftgasse weder in der Leopoldstadt noch in der Brigittenau liegt? Das ist natürlich vollkommen richtig. Aber das – sehr geräumige – Atelier im siebten Bezirk wird gerade umgebaut. Weshalb die Künstlerinnen ein Ausweichquartier suchen mussten, und am Nordpol fündig wurden. Freilich unter ganz anderen Bedingungen: Der für drei Monate angemietete Raum ist klein, hat kein Fließwasser und das Klo ist am Gang. „Es ist trotzdem wunderbar hier“, sagt die Schöpferin der Kollektion „Zierkuss“, Johanna Gradauer: „Wir haben den Augarten vor der Tür und das wunderbare Gasthaus „Am Nordpol“ zum Nachbarn.“

Gradauer bittet den Gast in den höchstens 30 Quadratmeter großen Raum, in dem alles steht, was die Goldschmiedinnen für ihre Arbeit und für den Verkauf brauchen: eine Walze, ein Glühplatz, eine Poliermaschine, die Werkbank mit vier Arbeitsplätzen, Kästen und Laden für Bohrer und Fräsen. Sogar ein kleiner Schaukasten und ein Verkaufspult haben noch Platz. „Es ist ein wenig wie beim Campen“, sagt Gradauer. Dann muss sie den Hackstock räumen, weil ihre Kollegin Katharina Ehrengruber (Kollektion „Goldkäthe“) einen Ring biegen möchte.
NICHTS MEHR VERPASSEN

„Jede von uns hat ihren eigenen Stil“, sagt Gradauer. „Aber das Schöne an der Werkstatt ist, dass wir nicht alleine arbeiten müssen und uns austauschen können.“ Läuft alles nach Plan, werden die sechs Frauen im Juli wieder in die Neustiftgasse ziehen können. Bis dahin biegen und schleifen sie in der Nordpolstraße.
Donnerstag und Freitag ist der Pop-up-Shop für Kundinnen und Kunden von 14 bis 18 Uhr geöffnet. An den anderen Tagen kann man nach vorheriger Vereinbarung über Mail kommen: „Diese Tage sind für individuelle Bestellungen reserviert“, sagt Johanna Gradauer, „da wollen wir uns mehr Zeit für Beratung nehmen“.
Schmuckatelier Neustiftgasse
Bis Ende Juli in der Nordpolstraße 1, 1020 Wien
Mail: kontakt@schmuckatelier-neustiftgasse.at
Webseite: www.schmuckatelier-neustiftgasse.at
Bernhard Odehnal lernte Journalismus bei der Stadtzeitung „Falter“ und war danach als Korrespondent und Reporter für österreichische und Schweizer Medien tätig. 2025 kehrt er mit der Gründung von „Zwischenbrücken“ in den Lokaljournalismus zurück. Er lebt in der Leopoldstadt.