Wie sieht das Wien der Obdachlosen oder Drogenabhängigen aus? Martin Klinger und Nadine Liebl geben auf ihren Nimmerland-Touren Einblicke in eine Welt, die sie aus eigener Erfahrung kennen.
Text: Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber

„Mit der Umgestaltung des Pratersterns zeigt sich die Stadt Wien von ihrer hässlichsten Seite. Jeder Millimeter verkörpert dort eine total kreative Maßnahme an defensiver Architektur.“ Die Worte von Martin Klinger hallen nach, als wir nach dem Gespräch zwischen Straßenbahnen und Fahrrädern den Platz überqueren.
Vom Karlsplatz zum Praterstern
Wir betrachten die von Martin erwähnten abgerundeten Steinbrocken, die Sitzgelegenheiten mit fixen Armlehnen oder die roten Bänke, fixiert auf einer runden Betonkonstruktion, die einen Baum umschließt. Hier zu liegen oder zu schlafen ist nicht möglich: „Es wurde viel Geld ausgegeben, damit unerwünschte oder unansehnliche Elemente sich gefälligst dort nicht aufhalten.“
Über 7,2 Millionen Euro kostete damals der Umbau. Das im April 2018 eingeführte Alkoholverbot und die massiven polizeilichen Kontrollen haben dazu geführt, dass jene Personen, die angeblich das so genannte subjektive Sicherheitsgefühl belasten würden, vertrieben wurden. In seiner lockeren und direkten Art hat uns Martin davon erzählt, wie er damals vom Karlsplatz, wo sich früher die offene Drogenszene traf, mit zum Praterstern „übersiedelte“.
Aus dem Seewinkel zu den Punks
Für das Gespräch hat Martin uns in seine Wohnung nicht weit vom Praterstern eingeladen. Bei einer Tasse Kaffee erzählt er uns seine Geschichte. „Ich bin ein Ex-Junkie, der sechs Jahre in Wien auf der Straße verbracht hat. Das sind die Dinge, mit denen ich mich beschreibe und worüber ich in meinem Arbeitsalltag erzähle.“
Seit gut drei Jahren bietet Martin Touren an und macht Suchtpräventionsvorträge. Meist wird er von Schulen gebucht. Das alles klingt unglaublich, wenn man seine Lebensgeschichte kennt.
Aufgewachsen ist er im burgenländischen Seewinkel, in einer, wie er es formuliert, „drogenlastigen Gegend“. Damit meint er nicht nur den Wein, mit diesem jedoch habe es bei ihm angefangen: „Mit sechs Jahren stellen sie dir zu Belustigung aller den ersten Wein hin, mit 11 Jahren Erstkommunion, da kläscht man sich erstmals selber ordentlich an, mit 13 trank ich bereits regelmäßig und dann mit 15 habe ich angefangen, jeden Tag zu trinken“. Alkohol sei für ihn der Einstieg gewesen, dann kamen die illegalen Drogen hinzu.
Obdachlos in Wien
Mit 16 Jahren warfen ihn die Eltern hinaus, er kam in ein Heim in Neunkirchen in Niederösterreich, ein Jahr später büxte er von dort aus und ging nach Spanien. Nach der Volljährigkeit kam er wieder zurück.
Nun begann seine Zeit ohne festes Zuhause: zunächst in Niederösterreich, wo er in einer leerstehenden Fabrik schlief, dann ging er nach Wien und lebte dort auf der Straße. Martin berichtet von brutalen Polizeiübergriffen, die ihn mitunter ins Krankenhaus brachten: „Es ist nicht leicht, obdachlos in Wien zu sein“. Im Nachsatz fügt er hinzu: „Und das in so einer reichen Stadt.

In Wien leben zirka 11.400 obdachlose Menschen, die Dunkelziffer wird weit höher geschätzt. Im Gegensatz dazu gibt es 1.000 Betten in Notschlafstellen und etwa 700 Plätze in Chancenhäusern. Da stellt sich die Frage, wohin all die Mensch gehen sollen?
Martin selbst mied damals die Notschlafstellen. Meistens übernachtete er versteckt hinter Sträuchern im Denzelpark im 6. Bezirk, immer wieder fand er auch Unterschlupf auf Wagenplätzen oder bei Freunden. „Die ersten die mich so angenommen haben, wie ich bin, waren die Punks.“
Damals gab es auf der Mariahilferstraße eine sehr lebendige Punk-Szene. „Die wollten mich vor dem Heroin bewahren, ich war jedoch wie prädestiniert für das Zeug.“ Martin schlitterte immer tiefer in die Sucht. Zunächst konsumierte er billiges und stark gestrecktes Heroin von der Straße. Dann kam er an immer hochwertigeren Stoff heran. Zu diesem Zeitpunkt habe er nicht mehr daran geglaubt, jemals wieder davon weg zu kommen, erinnert er sich.
Ausstieg ins Nimmerland
Seine Partnerin Nadine Liebl hingegen glaubte durchaus daran, dass ein anderes Leben für sie gemeinsam möglich sei. Sie unterstützte ihn dabei, sich einen anderen Alltag als den von Heroin geprägten vorzustellen und diesen schließlich auch umzusetzen.
Sie bekamen die Wohnung beim Praterstern und Martin schaffte langsam den Ausstieg. „Am schwierigsten war es, vom Alkohol loszukommen. Das dauerte fast zwei Jahre.“ Mittlerweile sei er weg davon, die Substitutionsmittel für das Heroin nehme er bis heute. Unverblümt und offen erzählt Martin über seine Sucht: Er erklärt die Mechanismen der Drogenszene und schildert, wie schwer ein Entzug tatsächlich ist.
Beste Bewertungen
Erste Erfahrungen als Guide sammelte Martin beim Verein Supertramps, bei dem ehemalige Obdachlose ihr Wissen und ihren Blick auf die Stadt im Rahmen von geführten Touren teilen. Schließlich hatte Nadine die Idee, eine eigene Firma zu gründen. Der Name **„Wiener Nimmerland” ist inspiriert von einer ehemaligen Kollegin, die Martin scherzhaft als „Peter Punk in seinem Nimmerland“ bezeichnete.
„Ich als antikapitalistischer, inkompetenter alter Punker hätte das nicht geschafft.“ Gemeinsam schafften sie es. Martin kümmert sich um die Touren, Nadine um die Buchhaltung, die Organisation und die Kommunikation. Der Internetauftritt der Firma „Wiener Nimmerland” ist hochprofessionell. Ein Blick auf die Bewertungen zeigt, dass hier nicht zu viel versprochen wird. Bei 345 Bewertungen den Höchstwert 5,0 zu erhalten, sagt einiges darüber aus. Mit Nico, der mit 13 Jahren auf der Straße landete und ebenfalls bereits auf eine langjährige Drogensucht zurückblickt, gibt es mittlerweile einen zweiten Guide.
In der Pizzeria Anarchia
Martin, Nadine und Nico geben den Menschen, die an ihren Touren teilnehmen, Einblicke in jene Dimensionen der Stadt, die oftmals ausgeblendet beziehungsweise von Vorurteilen derart überschattet werden, dass sie in ihrer vielschichtigen Realität nicht wahrgenommen werden. Obdachlosigkeit und Drogensucht sind immer auch verwoben mit (stadt)politischen Entscheidungen. Darauf legt Martin besonderen Wert, wenn er etwa über die Umgestaltung des Pratersterns spricht oder von der Geschichte der Pizzeria Anarchia erzählt, die sich zwischen 2011 und 2014 in der Mühlfeldgasse im zweiten Bezirk zugetragen hat.

Martin war damals dabei, als ein Hauseigentümer sich entschieden hatte, Punks für eine symbolische Miete von einem Euro vorübergehend in seinem Haus einzuquartieren, um die Bewohner:innen mit unbefristeten Mietverträgen endgültig zu vergraulen.
Diese eigentümliche Rechnung ging allerdings nicht auf: Die Punks setzten den alten Pizzaofen in Stand und richteten ein Nachbarschaftszentrum ein, das nicht nur von der letzten verbliebenen Bewohnerin des Hauses sondern von der gesamten Nachbarschaft akzeptiert und geschätzt wurde. „Darauf bin ich wirklich stolz“, sagt Martin und erzählt von den Geburtstagen und Straßenfesten, die bei ihnen stattfanden.
„Polizeieinsatz machte uns unsterblich“
Mit der Bewohnerin, die bis zuletzt stand gehalten hatte, sei er bis heute befreundet. Einem langwierigen Rechtsstreit, den der Eigentümer gegen die Punks anzettelte, folgte 2014 schließlich eine aufsehenerregende Räumung, bei der die Polizei extra Verstärkung aus den Bundesländern holte und Wasserwerfer sowie ein gepanzertes Räumfahrzeug einsetzte. Von der mehrstündigen Aktion berichteten sogar internationale Medien.
Den 19 Punks standen damals 1.400 Polizisten gegenüber. Wie sich später herausstelle, kostete der Einsatz 870.000 Euro. „Die Pizzeria Anarchia war eine tolle Geschichte: Punks und die letzten Mieter:innen gegen den Vermieter”, erinnert sich Martin Klinger: „Aber mit dem hirnlosen überzogenen Einsatz haben uns die Cops unsterblich gemacht, .“
Link: https://wienernimmerland.at

Andreas Pavlic
Andreas Pavlic lebt und arbeitet als Schriftsteller, Redakteur der Fachzeitschrift Soziale Arbeit in Österreich (SIÖ) und Kulturarbeiter in Wien Leopoldstadt. In seinen Arbeiten widmet er sich sozialen und politischen Themen, der Gedenkkultur und dem Leben ins seinem Grätzl.

Eva Schörkhuber
Eva Schörkhuber lebt als Schriftstellerin in Kulturwissenschafterin in Wien Leopoldstadt; sie schreibt Prosa, Lyrik, Essays und Reportagen – u.a. für den Augustin und für Die Presse. Zuletzt erschienen ist der gemeinsam mit Andreas Pavlic herausgegebene Sammelband Vagabondage,sowie der literarische Essay Die wunderbare Insel. Nachdenken über den Tod (Wien 2023).






