In einem Keller in der Leopoldstadt produzieren die „Pilzbrüder“ Otto und Martin Kammerlander Igelstachelbärte und andere Edelschwammerl.
Text: Ernst Schmiederer, Fotos: Chris Mavrič

Wer in der Leopoldstadt Schwammerl sucht, kann natürlich im Prater durch’s Unterholz stolpernd sein Glück versuchen. Wer’s lieber bequem hat und garantierten Ertrag schätzt, lässt Pilzmesser, Bürste und festes Schuhwerk zuhause. Kümmert sich weder ums Wetter, noch um die Jahreszeit. Und steuert die Große Mohrengasse an. Dort, knapp vor dem Donaukanal, auf Hausnummer 6 oder besser gesagt: tief darunter, betreiben Martin und Otto Kammerlander ihre wundersame Landwirtschaft. Oben, am Gehsteig, weist eine Schiefertafel den Weg: Pilzbrüder, Ab-Hof-Verkauf, 70 Meter nach rechts.
„Champignons gibt’s bei uns nicht“
Und da stehen sie dann auch, die Pilzbrüder. Zwei Herren im besten Alter, die sich der Pilzzucht verschrieben haben. Der eine 57, der andere 54 Jahre alt. Den Landwirt sieht man keinem von ihnen so richtig an. Beide tragen dezent abgetretenes Schuhwerk Marke New Balance („Made in UK 576“) und sind auch sonst unübersehbar urban shabby chic unterwegs. Dass Martin, der ältere, im Hauptberuf ein Design-Studio betreibt, und der jüngere Otto als Jurist Geld verdient, scheint auf den ersten Blick stimmig. Dass sie unterirdisch Schwammerl züchten, hat hingegen Erklärungsbedarf.
Zuerst sei aber noch eine Kleinigkeit klargestellt: Wenn hier salopp von Schwammerln die Rede ist, könnten Feinspitze das in den falschen Hals kriegen. Was die Pilzbrüder da unten das ganze Jahr über züchten sind Speisepilze der allerfeinsten Art, selbstverständlich in Bio-Qualität. Den Igelstachelbart zum Beispiel (58 Euro das Kilo). Shiitake. Oder Austern- und Kräuterseitlinge (32 Euro). „Champignons gibt’s bei uns definitiv nicht“, sagt Otto bestimmt.

Wir wollten, erzählt Martin über die Anfänge der Zucht, einfach wieder etwas mit den Händen tun. Tagein, tagaus nur vor Bildschirmen zu sitzen, das kann es doch nicht gewesen sein. 2017 wurden die ersten Experimente gestartet. 2018 haben sie schließlich diesen Keller entdeckt, der sich von der Großen Mohrengasse 6 in Richtung Praterstraße 13 streckt. Hilfreich bei dieser Entdeckung war auch der Umstand, dass beide mit ihren Familien irgendwo weiter oben in diesem langgestreckten, ehemals als „Lloyd-Hof“ bekannten Zinshauskomplex zuhause sind.
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Arbeitsplatz und Wohnungen an ein und derselben Adresse zu haben, sei nicht nur glückliche Fügung, sondern auch absolute Notwendigkeit: „Wir sind täglich und oft mehrmals am Tag im Keller, anders wäre das nicht möglich.“ Man erzeuge schließlich ein empfindliches, pflegeintensives Produkt.
Auch oben, in dem knapp 25 Quadratmeter kleinen Verkaufsraum, machen sich beide gerne zu schaffen. Jeder stehe einen Abend die Woche hinter der Budl, um der Laufkundschaft – der man in nicht wenigen Fällen mittlerweile auch freundschaftlich verbunden ist – die feine Ware in die mit hellblauen Pilzbrüder-Aufklebern gebrandeten Papiersäcke zu schlichten. „Es ist einfach schön, den Leuten ein gutes Produkt mit auf den Weg zu geben“, sagt Otto. Und die Leute, ergänzt Martin, hätten Freude damit. Ein Kunde habe ihnen jüngst das denkbar schönste Kompliment gemacht: „Menschen wie ihr beide machen das Leben in der Leopoldstadt lebenswert.“
Unterwegs mit bis zu 60 Kilo
Von wegen Branding: Für Logo-, Schrift- und allgemeine Designfragen ist Martin zuständig. Alles andere ist einhundert Prozent Co-Produktion, betonen sie. Was „alles andere“ ist, erschließt sich dann Schritt für Schritt, Blick um Blick. Links hinten und rechts vorne steht jeweils ein Bullitt-Cargo-Bike, Lastenräder dänischer Machart aufgerüstet mit Transportpritschen aus eigener Produktion. Im Maximalfall lassen sich 100 Kilo Pilze damit bewegen, „im Normalfall sind wir mit 40 bis 60 Kilo unterwegs“.

Regelmäßig beliefert werden Restaurants, Feinkostläden und Bio-Lieferservices: Tian, das vegetarische Gourmetrestaurant im ersten Bezirk, das Wildling im achten, das Brösel im Stuwerviertel, das Dstrikt Steakhouse am Schubertring. Oder Joseph Brot und Rita bringt’s. Der Ab-Hof-Verkauf trägt vergleichsweise bescheiden zum Umsatz bei, wird aber – siehe oben – aus Gründen der Kontaktpflege sehr ernst genommen. „Es macht total Spaß mit Köchen oder Köchinnen zu reden, ob die nun daheim oder in einem Spitzenrestaurant ans Werk gehen – es ist immer nett und interessant.“
Im Reich der Funga
Wer am Verkaufspult vorbei drei Schritte weiter geht, steht rechterhand vor dem Eingang zur Unterwelt. Eine roh gezimmerte Holzstiege und ein schlanker Aufzug mit Scherengitter führen in den beachtlich langgestreckten Keller, der mit komplexen Lüftungs- und Abwassersystemen sowohl klimatisch als auch hygienisch im idealen Betriebszustand gehalten wird.
Bis zu eintausend Kilo werden da Woche für Woche runter- und rauftransportiert. Runter müssen die Substratblöcke, Würfel aus organischem Material, aus Buchenholzhackschnitzel beispielsweise, die mit Pilzsporen beimpft werden. Das darin unsichtbar gedeihende Geflecht aus feinen Fäden wird Myzel und der sichtbare Pilz Fruchtkörper genannt. Aber Achtung: Pilze sind keine Früchte! Sie sind weder im Reich der Pflanzen (Plantea) noch in dem der Tiere (Fauna) zuhause, sondern in ihrem eigenen, Funga genannt. Je nach Sorte sind sie in zehn Tagen oder spätestens drei Wochen erntereif.
Von Hand geerntet
In dieser Zeit lagern die Blöcke auf maßgeschneiderten Lärchenholzregalen, die sich in zwei Reihen eins ums andere in die Tiefe des fein nach Hefe duftenden Kellers ziehen. Hier sprießen stiftartig die Kräuterseitlinge, weiter hinten drängt der exotische Igelstachelbart ins Freie, auch Affenkopfpilz oder Pompom genannt. Der sei, schwärmen die Brüder, nicht nur besonders schön sondern auch heilsam bei Magen- und Darmbeschwerden. Um zeitnah Gefallen zu finden oder Wirkung zu entfalten, müssen die von Hand geernteten und sorgfältig in lebensmittelechte Plastiksteigen sortierten Pilze allerdings erst nach oben transportiert werden. So wie natürlich auch die verbrauchten Blöcke, die in einer der vier X-Large-Biotonnen landen.
Unübersehbar bei alledem: Die Brüder brauchen und haben Unterstützung. Drei Mitarbeiter*innen sind mit ihnen bei Zucht, Ernte und vor allem auch beim Vertrieb per Lastenrad am Werk. Eine von denen, Laura, 24jährige Master-Studentin der Ernährungswissenschaften, bedient gerade Kunden und weist auf das restliche Angebot im Wandregal hin.
Weggeschmissen wird nichts
Neben der vor wenigen Stunden erst geernteten Frischware gibt’s nämlich auch diverse Suppen-Pulver („Umami Shitake Brew“), Aufstriche („Bio-TapiRouge“) und veganes Sugo („Bio-Pilzognese“). Und außerdem noch, in großen, weiter oben am Regal stehenden Gläsern: getrocknete Pilze. „Ware, die noch schön ist, aber übrig bleiben würde, wird getrocknet“, sagt Laura: „Wenn man diese Pilze in der Suppe rehydriert, ergibt das ein wunderbar intensives Umami-Aroma.“ Und alles was wirklich nicht mehr schön ist, „esse ich”, lacht Laura: „Bei uns wird möglichst gar nicht’s weggeschmissen.“
Wenig überraschend haben auch die Brüder ihre Pilze längst in Speise- und Tagesplanung eingebaut. Otto trinkt morgens statt dem Espresso seinen Pilzkakao („Kakaopulver angereichert mit fünf Vitalpilzen“). Martin kocht jeden Tag Pilzsuppe, die er möglichst auch schon zum Frühstück zu sich nimmt.
Und weil jeder der beiden drei Töchter hat und wunderbarerweise die Hälfte dieses halben Dutzends auch noch vegan lebt, sei der Eigenbedarf nicht unerheblich. „Wir sind“, stimmen die Brüder überein, „unsere besten Kunden.“
Pilzbrüder, Große Mohrengasse 6, 1020 Wien.
Link: https://pilzbrueder.at
Öffnungszeiten / Ab Hof: Di – Do jeweils 17 – 19 Uhr
Oder nach Vereinbarung: 0699/19 25 18 95
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger (edition IMPORT/EXPORT), Autor und Archivar („Geschichten der Gegenwart“). Er hat für profil und Die Zeit gearbeitet, war Lektor an der Sigmund Freud Uni und wurde von der Stadt Wien mit dem Preis für Volksbildung geehrt. Er lebt in der Leopoldstadt und im Weinviertel.
Kontakt: ernst@zwischenbruecken.at
Christopher Mavrič arbeitet als Fotograf für den „Falter“ und viele andere Medien. Sein Fotoband „Zwischen Brücken“ mit Porträts und Ansichten der Brigittenau erschien 2020 in der FOTOHOF-Edition. Er ist Lehrbeauftragter für analoge Fotografie an der Fotoakademie Graz.








