Angelika Fitz, 58, leitet das Architekturzentrum Wien AzW und präsentiert dort ein Manifest für eine andere Architektur.

Seit 16 Jahren wohne ich in der Brigittenau, im Zwischenbrücken-Viertel. Und doch spielt der Wallensteinplatz mit seinen Lokalen in meinem Alltag kaum eine Rolle. Ich habe vorher im 2. Bezirk gewohnt, zuletzt im Stuwerviertel, in der Ausstellungsstraße, als das noch eine Rotlicht-Gegend ohne Bobo-Schick war. Die Brigittenau erschließt sich mir bis heute aus dieser Perspektive: Ich komme über den Praterstern und das Nordbahnviertel nachhause, auch wenn es gelegentlich über die Wallensteinstraße näher wäre. Mir ist der Nordbahnhof und die Entwicklung in den letzten Jahren dort ganz offenkundig ans Herz gewachsen.
Arbeit in der Nordbahnhalle
2017 haben wir als Architekturzentrum Wien (AzW) einen öffentlichen Arbeitsraum in der Nordbahnhalle beim Wasserturm eingerichtet. Die Idee: Prototypen für Care + Repair Urbanismus zu entwickeln. Die zentrale Frage: Wie können Architektur und Urbanismus dazu beitragen, die Zukunft zu reparieren? Also den Planeten mit seinen Bewohner:innen am Leben zu erhalten. Mit Elke Krasny habe ich die Ergebnisse dieser Arbeit später in Buchform zusammengefasst: „Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet“.
Bauen kann extrem zerstörerisch sein. Es wird viel Sinnloses gebaut, vieles nur aus Spekulationsgründen. Dabei wird viel kaputtgemacht, sozial, ökologisch und kulturell. Die Care-Ethik, das Sorgetragen steht deshalb im Zentrum meiner Vorstellung von Architektur. Bodenspekulation ist ein absolutes Unding. Wohnen ist ein Menschenrecht und keine Ware.
Alternativen zum Mainstream
Ich komme aus der Kulturwissenschaft. Als ich in Innsbruck Ende der 1980er Jahre Vergleichende Literaturwissenschaft studierte, haben wir das Fach intern schon cultural studies genannt. Das erschließt meinen kritischen Zugang zur Architektur: Wie kann sie eine andere Haltung, wie können sich Alternativen zum kapitalgetriebenen Mainstream entwickeln? Architektur als Gesellschaft formende Kraft und als eine von der Gesellschaft geformte Disziplin: Da kommen der öffentliche Raum und die Stadtentwicklung ins Spiel. Im Nordbahnviertel lässt sich das exemplarisch beobachten. Da ist Vieles gut gelungen. Wie sich das Viertel um den Nordwestbahnhof nun entwickeln wird, bleibt abzuwarten.
Mit Blick auf den zweiten und den zwanzigsten Bezirk lässt sich jedenfalls einiges lernen für die Entwicklung einer klimagerechten Stadt. Die Großzügigkeit der Donauinsel ist beeindruckend. Und auch ihre Vielfältigkeit. Sie bietet der Stadt und ihren Bewohner:innen jede Menge blaue und grüne Infrastruktur, also Wasser, gekühlte Luft, Natur und Landschaftsgestaltung. Wir spüren das als Frischluftschneise bis zum Praterstern. Ab dort wird es auf dem Weg in die Stadt dann um einige Grad wärmer. Ob man diese Erkenntnis in der weiteren Stadtplanung entsprechend umsetzt, wird sich zum Beispiel am Entwicklungsgebiet hinter dem Westbahnhof zeigen. Die Initiative „Westbahnpark“ fordert, dass entlang der Gleise dort auf über einem Kilometer Länge ein Park entsteht, also eine Frischluftschneise vom Wiener Wald in die Stadt. Wir werden sehen.

Wie die sozialen, die planetarischen und die feministischen Dimensionen von Architektur zusammenspielen, zeigen wir im AzW ab kommender Woche in einer großen Ausstellung zu Anupama Kundoos Werk: Reichtum statt Kapital. Die indische Architektin beweist seit über drei Jahrzehnten mit ihrer Arbeit, dass ein anderes Bauen möglich ist. Welchen Sinn hat es, Dinge effizient zu tun, die gar nicht getan werden müssen, fragt sie.
Kreativer Einsatz lokaler Materialien
Mit Elke Krasny habe ich diese Ausstellung kuratiert, Anupama Kundoo in Südindien getroffen und dort ihre Bauten besucht. Ihre so lebendige Architektur hat uns tief beeindruckt, weil sie sowohl die Menschen als auch ihre Umgebung frei atmen lässt. Reichtum drückt sich in ihrem Universum nicht durch teure Materialien oder perfekte Industrieprodukte aus, sondern im kreativen Einsatz von Materialien und Techniken, die lokal im Überfluss vorhanden sind.
Um das breite Themenspektrum zu sortieren, haben wir acht Dimensionen ausgemacht. Etwa den Reichtum an Materialien und die Fülle an Lösungen. Den Reichtum der Natur, um das Klima zu heilen. Eine Schönheit, die aus dem Reichtum an Unterschieden resultiert. Instandhaltung der Architektur durch Praktiken, die reich an Wissen, Fähigkeiten und Bedeutung sind. Eine Architektur, die Ruhe verschafft: Wo andere Architekturikonen Macht, Kapital und Spektakel repräsentieren, lädt Architektur bei ihr zum Auftanken, zum Innehalten ein, ist also reich an Erholungsmöglichkeiten.
Ein Container aus Indien
Um dieses räumliche Erlebnis sicht- und greifbar zu machen, haben wir in Indien einen Container mit Materialien aus Kundoos Architekturuniversum beladen: handgemachte Ziegel, Terrakotta-Elemente, Bambus und Zuckerrohr, also auch viel Natur. Während der Container auf den Weltmeeren unterwegs war, haben wir uns manchmal bang gefragt, ob alles gut gehen wird. Inzwischen wissen wir, dass der Eröffnung am Mittwoch abend nichts im Weg steht. Dann wird man Antworten finden auf die zentrale Frage dieser Ausstellung: Was, wenn Architektur kein Instrument des Kapitals wäre? Was, wenn genug für alle da ist?
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Link:
https://www.azw.at/
Ausstellung:
https://www.azw.at/de/termin/reichtum-statt-kapital-anupama-kundoo/
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.