Stefan Foidl leitet seit ihrer Gründung die Wiener Chormädchen und führt sie nun im Palais Augarten in ein neues Schuljahr. Gemeinsam schreiben sie Geschichte.

Vielleicht fangen wir der Einfachheit halber mit einem Ende an: 15 Jahre lang hat sich der von Oliver Hangl gegründete Wiener Beschwerdechor jetzt musikalisch-aktionistisch aufgepudelt. Von Anfang war ich als Chorleiter beteiligt. In unserem Pressetext steht es: Vom kleinsten Schmarrn bis zum größten Schas – wir haben uns um alles gekümmert, über alles gesungen, gejammert und geraunzt.
Der Stadt den Spiegel vorhalten
Wir haben der Stadt den Spiegel vorgehalten. Wir haben uns stellvertretend für die nächste Generation aufgeregt. Wir haben alles probiert. Jetzt ist Schluss. Zweimal werden wir im Herbst noch im Rabenhof auftreten. Und dann: Ende Gelände! 15 Jahre haben wir investiert, um die Welt zu verbessern. Und jetzt schau sie Dir an, diese Welt! Wir müssen offenbar etwas verändern. Was? Das wird sich finden. Oder auch nicht.
Abgesehen davon: ich habe auch sonst genug zu tun. Insbesondere als Chorleiter der Wiener Chormädchen, die ich in dieser Funktion seit 2011 begleiten darf. Gerade hat das Schuljahr im Augartenpalais wieder begonnen, drei intensive Trimester und eine ausgedehnte Chinareise erwarten uns. Fad wird es also nicht.
Täglich bis zu drei Stunden Chorsingen
Gegründet wurden die Chormädchen 2004 als Gegenstück zu den Wiener Sängerknaben, die es seit 525 Jahren gibt. Neben den vier Knabenchören gibt es jetzt also auch einen professionellen Kammerchor mit 25 Mädchen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren. Alle zusammen werkeln wir im Campus Augarten. Die Buben wohnen im Internat: An vier Tagen der Woche müssen sie dort übernachten, um fit zu werden für längere Konzertreisen. Die Mädchen kommen aus Wien und Umgebung jeden Morgen zu uns in die Schule.
Ihr Tag ist lang: von halb acht geht es oft bis kurz vor 18 Uhr. Zwei bis drei Stunden davon sind Chorsingen. Der Lernstoff eines Schuljahres muss sehr dicht in zwei Trimestern untergebracht werden. Das übrige Trimester ist für Tourneen in alle Welt reserviert. Mit Ende der 4. Klasse der Unterstufe muss ich mich von den Sängerinnen dann leider verabschieden, die Oberstufe lässt ein Singen in den Konzertchören nicht mehr zu.
„Fly me to the moon“
Für mich ist das eine tolle Aufgabe: Die Chance, in einem Traditionshaus ein neues Projekt beginnen und gestalten zu können, gibt es offenbar nur alle 500 Jahre. Eine Tradition, die prägt und vieles überhaupt erst möglich macht. Und andererseits tun wir da einen großen, höchst relevanten Schritt: Die Chormädchen sind als Frauen in einer Männerwelt ein gesellschaftspolitisch wohl wichtiger Klangkörper in unserer Zeit.
Nach 500 Jahren stehen diese Mädchen jetzt gleichberechtigt neben den Knaben. Dementsprechend möchte ich auch unser Programm gestalten. Wir binden viele Komponistinnen ein. Wir machen auch Jazz, summertime, fly me to the moon, on the sunny side. Und wir treffen eine zur Botschaft passende Textauswahl. Also zum Beispiel Peter Gabriels Shaking the Tree:
Waiting your time, dreaming of a better life / Waiting your time, you’re more than just a wife / You don’t have to do what your mother has done / She has done, this is your life, this new life has begun

Diese jungen Frauen schütteln die Welt also kräftig durch, um sie dann neu zu ordnen. Und ich hab den Traumjob, sie dabei zu unterstützen. 100 Millionen Menschen konnten bei Neujahrskonzert 2023 erleben, was das bedeutet: Die Chormädchen haben da gemeinsam mit den Sängerknaben im Musikverein einen von Anna Mabo zu Josef Strauß‘ Stück Heiterer Muth. Polka française verfassten Text über den Löwenzahn gesungen. Damals waren die Klimakleber medial gerade am Zenith, der Löwenzahn, der sich durch jeden Beton bohrt, war als Widerstandssymbol klar zu erkennen. Und die Welt hat die Chormädchen erlebt. Das war ein irres mediales Echo. This new life has begun.
Erste Chorleitung im Gymnasium
Aus einem mir unerfindlichen Grund hat es mich schon sehr, sehr früh in die Rolle des Chorleiters reingezogen. In der Schule – neusprachliches Gymnasium Erlgasse im 12. Bezirk – habe ich mich bemüht, aus unserer Klasse einen Chor zu machen. Wir sollten die Schulmesse zu Weihnachten gestalten und waren total überfordert von dieser Aufgabe. Mit ungeahnter Kraft habe ich das damals geschafft.
Bei uns zuhause stand ein Pianino, weil meine ältere Schwester Klavier gelernt hat. Als Dreijähriger habe ich schon versucht, nachzubauen, was sie jeweils gespielt hat. Ich habe als Kind erforscht, wie das Musizieren funktionieren könnte. Und dabei ist es bis heute geblieben. Das Forschen ist mein Zugang zur Musik. Unsere Eltern waren nicht musikalisch. Aber sie haben zum Glück erkannt, wie wichtig Musik für mich ist und haben mir einen wirklich guten Klavierlehrer besorgt, den Komponisten Werner Pelinka.

Wenn ich die drei Personen aufzählen müsste, die mich musikalisch geformt haben, dann wäre Werner Pelinka an erster Stelle. Dass ich Komposition und Chorleitung und später auch noch Jazz studiert habe, ist nicht zuletzt seinem Wirken zu verdanken. Der zweite Name: Günther Theuring, Dirigent sowie Gründer und Leiter des Wiener Jeunesse-Chors. Ich hab bei ihm studiert und durfte sein Assistent sein. Er war selber als Kind Sängerknabe. Von ihm habe ich viel Wienerisches in der Musikgestaltung gelernt.
Wurzeln in Meidling und Stockerau
Drittens wäre Gerald Wirth zu nennen. Er war damals der künstlerische Leiter der Wiener Sängerknaben, kennengelernt habe ich ihn aber bei Superar. Superar bietet Kindern und Jugendlichen kostenlosen Zugang zu kultureller Föderung. In sieben Ländern arbeitet Superar derzeit mit weit über 5.000 Kindern. Ihm bin ich erst als musikalischer Leiter von Superar gefolgt und dann so auch zu den Chormädchen gekommen. Von Gerald Wirth habe ich gelernt, mit Kindern spielerisch und mit viel Spaß musikalische Höchstleistungen zu erreichen. Und mit ihm erst habe ich erkannt, dass ich gut und gerne mit Kindern arbeite.
Zum Glück treiben nebenher meine Meidlinger Wurzeln sowie die Stockerauer Wurzeln meiner Eltern noch gelegentlich Blüten. Ich kann Dialekt, was heute ja nicht mehr selbstverständlich ist. Und ich arbeite gerne damit.
Lieder im Dialekt
In der Pandemie habe ich begonnen, Dialektlieder zu schreiben, stilistisch irgendwo zwischen Georg Kreissler und Roland Neuwirth. Die harren jetzt ihrer Verwendung. Vielleicht wächst daraus ja eine Form, die meine Zeit nach dem Wiener Beschwerdechor füllen kann. Vielleicht auch nicht.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer (www.ernstschmiederer.com)
Links: https://wsk.at/chormaedchen
https://www.rabenhoftheater.com/programm/wiener-beschwerdechor
Die letzten Auftritte des Wiener Beschwerdechors:
Rabenhof Do 16.10. mit Anna Mabo und Franz Adrian Wenzl (Austrofred)
Rabenhof Sa 15.11. mit Willi Landl und den beiden Sängern der 5/8erl in Ehr’n
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.