Sie balanciert zwischen den Welten
Andrea Roedig, Autorin, Philosophin, Radfahrerin und deutsche Metzgerstochter hat sich im Nordbahnviertel gut eingerichtet.

Ich habe Philosophie studiert, die brotloseste aller brotlosen Künste, denn ich hatte als Studienfach etwas Herausforderndes gesucht, etwas, was ich mir alleine nicht hätte aneignen können.
Nachdem ich mit meiner Arbeit „Foucault und Sartre. Die Kritik des modernen Denkens“ an der FU Berlin promoviert wurde, wollte ich kein akademisches Buch mehr schreiben. Seither war ich als Redakteurin, Autorin und freie Publizistin in diversen deutschen Printmedien tätig. 2006 bin ich schließlich über ein Stipendium an das Institut für die Wissenschaften vom Menschen nach Wien gekommen.
Bücher im Gemeinschaftsraum
Seit 2007 lebe ich fix hier, arbeite als freiberufliche Journalistin für den Rundfunk, zum Beispiel für Deutschlandradio und Ö1, sowie für Printmedien wie Standard, Presse, taz und Freitag. Außerdem bin ich Mitherausgeberin der alteingesessenen Literatur- und Essay-Zeitschrift wespennest.
Ich habe noch ein Fahrrad in Berlin, weil ich da auch immer wieder mal hinkomme. Meine vier anderen Räder – Gravel-, Renn-, Reise- und Stadtrad – stehen in der Garage der HausWirtschaft, in der ich seit zwei Jahren arbeite und wohne. Dieses Hausprojekt im Nordbahnviertel wird als Genossenschaft betrieben und steht als gemeinwohlorientierter Betrieb für mehr sozialen Zusammenhalt und eine nachhaltige Nutzung knapper Ressourcen. Im ersten und zweiten Obergeschoss wird gearbeitet, vom dritten bis zum siebten gewohnt.
Weil meine Wohnung mit 50 Quadratmetern nicht üppig bemessen ist, habe ich etliche meiner Bücher in den Coworking-Bereich und in den Gemeinschaftsraum im 7. Stock ausgelagert – da stehen sie auch anderen zur Verfügung.
Nicht mehr Deutsche, noch nicht Österreicherin
Ich mag den 2. Bezirk sehr. Zuvor war ich lange in der Pillersdorfgasse zuhause, alleine, schreibend, da wird man ein bisschen eigenartig. Die HausWirtschaft ist dagegen wie ein anderes Leben, hier habe ich viele Leute um mich, viel Unterstützung, aber auch Raum zum Rückzug. All das macht gute Laune. Dazu kommen die Vorteile des Neubaus: keine zugigen Fenster, keine schlimmen Vermieter, nichts ist verdreckt.
Mit dem Umstand, dass ich als Deutsche hier in Österreich lebe, habe ich mich anfangs viel beschäftigt, jetzt, nach mehr als 17 Jahren im Land, bin ich nicht mehr ganz die Deutsche, aber eben auch nicht ganz Österreicherin. Das passt zu dem, was ein Freund einmal über mich sagte: ich sei eine „Zaunreiterin“. In allen Lebenslagen bin ich gerne auf beiden Seiten, balanciere zwischen den Welten, lasse mich nicht vereinnahmen, widersetze mich dem Zwang zur Positionierung.
Was beim Heimischwerden in Wien geholfen hat: der schöne Karmelitermarkt. Die Kontakte dort sind sehr persönlich, die Nahrungsmittel ausgezeichnet. Das tut mir gut, ich fühle mich einfach wohl dort. Das mag auch mit meiner Herkunft als Metzgerstochter zu tun haben, aus der eine gewisse Bodenständigkeit resultiert und eine Vorliebe für den Einzelhandel.
Empörung über geschlossene Bäckerei
Ich lasse mich gerne beraten, kaufe gerne bei Menschen ein, die ich kenne. Supermärkte meide ich wann immer möglich. Dass die Bäckerei Gragger jetzt insolvent ist und ihre Wiener Filialen schließen muss, finde ich einfach empörend. Insbesondere wenn ich sehe, wie an jeder freien Ecke im Nordbahnviertel immer noch ein Billa oder ein Spar einzieht.
In den letzten Jahren habe ich mich vermehrt mit Autobiografischem beschäftigt, etwa für den Radiosender swr2 ein Feature über meine „kleine rechte Hand“ gemacht, an der seit Geburt zwei Finger fehlen. In meinem Buch „Man kann Müttern nicht trauen“ (dtv 2022) habe ich mich intensiv auf die Geschichte meiner Mutter Lilo eingelassen.
Entdeckungen mit Bahn und Literatur
Seit einer Weile schon plane ich mit einem Soziologen ein Interview- und Essaybuch über „Metzgerstöchter“. Die Idee: Der Einzelhandel ist praktisch verschwunden, die Töchter werden keine Metzgerinnen werden, beeinflusst deren Herkunft dennoch ihre Berufswahl? Abgesehen davon erstelle ich Radiofeatures auch zu allgemeinen und philosophischen Themen, gerade arbeite ich an einer „Langen Nacht der Scham“ für Deutschlandfunk Kultur. Zwei tolle Bücher möchte ich irgendwann auch noch schreiben, aber das ist noch nicht konkret.
Auf jeden Fall will ich noch viel in der österreichischen Landschaft herumstreifen. Der Wienerwald, die Gutensteiner Alpen, das Mariazeller Land, all das berührt mich sehr. Man kann dieses Österreich radelnd, gehend aber auch lesend und hörend wunderbar entdecken. Mit der Bahn. Mit der hiesigen Literatur. Und mit Ö1. Von all dem bin ich absoluter Fan.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Links:
https://andrearoedig.com
https://diehauswirtschaft.at
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.