„Schönheiten der Stadt? Das hat niemanden interessiert“
Der Urbanist Eugene Quinn, 57, begann im Karmeliterviertel mit der Vienna Ugly Tour. Mittlerweile hat er seine Themenbereiche erweitert und die Spaziergänge auf ganz Wien ausgedehnt.

Vor 16 Jahren kam ich der Liebe wegen aus London nach Wien. Seither beschäftigt mich diese Stadt. Die Leute, das Essen, die Bildung, das Schöne und das Hässliche, eigentlich interessiert mich alles. Ich habe keinen Führerschein, kein Fahrrad und kein Klimaticket. Denn ich gehe. Tagein, tagaus. Im Schnitt neun Kilometer täglich.
Auffällig geworden bin ich erstmals mit meiner Vienna Ugly Tour. Jeder Mensch weiß, wie schön Wien ist. Aber es gibt auch eine Menge wirklich hässlicher Ecken in dieser Stadt. Da habe ich in meinem Grätzl beim Karmelitermarkt genug Anschauungsmaterial. Zum Beispiel die Fassade am Haus der Zeit auf Leopoldsgasse 39. Das war lange das spektakulärste Beispiel meiner Tour: eine furchtbare, pastellige Farborgie, gesichtslose Frauengestalten darauf, Tropfengebilde, die an Spermien gemahnen. Das reine Grauen.
Horror in Gold und Glas
Mittlerweile ist dieser Alptraum Geschichte, die Fassade wurde übermalt. Aber man muss sich nur umdrehen und auf die gegenüberliegende Seite des Marktes schauen: einem schönen, alten Haus wurde ein vergoldetes, gläsernes Penthouse-Ungetüm aufgesetzt. Ein Horror.
Dass die Brigittenau bei diesen Touren ausgespart bleibt, hat einen simplen Grund: Die Zurschaustellung von fragwürdigem Geschmack setzt Reichtum voraus. Und der hat sich noch nicht in allen Stadtteilen breit gemacht. Probeweise habe ich ein Mal eine klassische Führung zu den Schönheiten der Stadt ins Programm genommen. Das hat praktisch niemanden interessiert. Auf der Ugly-Tour hingegen hatte ich über die Jahre schon 17.000 Gäste.
Ärger mit dem Marktamt
Leider haben mir meine Aktivitäten anfangs auch Ärger eingebracht. Dem Marktamt verdanke ich drei Anzeigen, die beträchtliche Geldstrafen nach sich gezogen haben. Als Stadtführer müsste man langwierig und teuer ausgebildet sein. Das konnte ich mir erstens nie leisten. Und zweitens mündet so eine Schulung in der Regel in diese langweilige vergangenheitsbezogene Sisi-Schnitzel-Dauerschleife, die man bei Führungen in Wien allerorten zu hören bekommt. Mittlerweile hat die zuständige Magistratsbehörde aber gnädig erkannt, dass ich mit meinem Alternativ-Zugang keine Konkurrenz bin. Man lässt mich nun gewähren.
Wien ist im Grunde Avantgarde. Fremde, Migranten, Zugezogene und eine unübersichtliche Menge unterschiedlichster Kulturen prägen und erneuern diese Stadt unablässig. 40 Prozent der Menschen, die hier leben, sind nicht hier zur Welt gekommen. Unser zwölfjähriger Sohn Josef geht ins Gymnasium am Augarten; von den 26 Kindern in seiner Klasse sprechen zuhause nur sechs Deutsch. Als UN-Stadt beherbergt Wien jede Menge Diplomaten aus aller Herren Länder. Aus all diesen Potentialen, aus all dem Knowhow, aus dieser Vielfalt, aus dieser modernen Komplexität können wir schöpfen.
Die Mission: Menschen glücklich machen
Vor einigen Jahren habe ich mit Gleichgesinnten das Künstlerkollektiv whoosh.wien gegründet: 13 neugierige, stadtaffine Leute aus acht unterschiedlichen Ländern, die sich für einen positiven Zugang zum Leben, zur Politik, zum sozialen Engagement engagieren. Unser Glaubensbekenntnis: Glückliche Menschen stimmen für Veränderungen, haben mehr Vertrauen, suchen nach Lösungen und führen ein längeres, erfüllteres Leben. Sie verdienen mehr Geld und haben mehr Freund*innen.

Darauf bauend haben wir über die Jahre etwa zwanzig Projektschienen entwickelt, die der Stadt, ihren Bewohnern und Gästen Gutes tun. Unter dem Hashtag #walkingandthecity bieten wir 138 unterschiedliche urbane Themen-Touren durch Wien an.
Gespräche über große Fehler
Wir veranstalten die Vienna Coffeehouse Conversations: Menschen, die einander nicht kennen, sitzen um einen Tisch, um miteinander zu essen, zu trinken und zu reden. Um das Gespräch am Laufen zu halten, stellen sie einander schwer zu beantwortende Fragen: „Was war dein größter Fehler?“ Inzwischen gibt es auch eine spezielle Version der Coffeehouse Conversations, um die Verbindung zwischen der Stadt und den Vereinten Nationen zu stärken: 17 UN-Diplomaten treffen dabei auf 17 Wiener*innen.
Um den ruhigen, hügeligen Teil von Ottakring zu erkunden, führen wir im Juli durch „Outerkring“. Da erwandern wir 20 besonders schöne Bauwerke und landen am Schluss in der 10er Marie, dem ältesten Heurigen der Stadt.
In einer „Feminism for Men“-Tour werden wir durch die Brigittenau spazieren und erkunden, wie es um Geschlechtergerechtigkeit in dieser Stadt steht? Warum in der Brigittenau? Weil der Bezirk nach einer Frau benannt ist!
Pub-Quiz im Wien Museum
Um die britische Pub Kultur nach Wien zu bringen, haben wir im Wien Museum ein „Pub Quiz“ ausgerichtet. Aus dem Fragenkatalog, den beantworten muss, wer die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten will, haben wir ein „Pop Quiz“ geschneidert. Wir wollen die ernste Debatte über Zugehörigkeit und Integration mit ein bisschen Spass aufpeppen.
Dass ich selbst noch Brite bin und das auch bleiben werde, liegt nahe: Vermutlich würde ich den Test nicht bestehen und im Übrigen gehöre ich ohnehin nicht zu diesem katholischen, immer leicht rassistischen Zwei-Autos-Pro-Familie-Land. Was ich allerdings jederzeit und liebend gerne annehmen würde: einen Wiener Pass!
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Links: https://whoosh.wien
https://www.zeit.de/2015/33/eugene-quinn-vienna-ugly-oesterreich
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.