„Zwei Bänke, ein Tisch, ein Brett – schon spielen die Kinder Schach“
An Samstagen belebt der Psychoanalytiker Klaus Doblhammer, 58, den Volkertmarkt mit seiner Schachstation hinter dem Café Nelke.

Die Idee stammt von Kineke Mulder, einer Wiener Grafik- und Webdesignerin. Sie ist 2015 mit ein paar Schachbrettern zum Hauptbahnhof gefahren, um den dort gestrandeten Flüchtlingen das Schachspielen zu ermöglichen. Ich habe Fotos davon gesehen, war beeindruckt und fand das nachahmenswert.
Also bin ich 2016 erstmals mit drei Schachbrettern zum Volkertplatz gegangen. Ich wohne ums Eck in der Vereinsgasse, kenne den Platz also gut. Der verträgt einerseits ein bissl Belebung, habe ich mir gedacht, andererseits gibt’s dort die nelke – cafe am markt, mein Stammlokal. Der Wirt borgt mir einen Tisch, der Rest wird sich ergeben.
Im Schatten am Samstag von 10 bis 14 Uhr
Und so läuft das seither jeden Sommer. Ich hänge zwei, drei Plakate in der Gegend auf, um auf den nächsten Termin aufmerksam zu machen: Samstag von 10.00 bis 14.00 Uhr hinter der Nelke. Da haben wir Schatten und ein bissl Ruhe.
Wir stellen den Tisch auf und zwei Bänke, platzieren die Schachbretter und los geht’s. Erst kommen die Kinder. Volksschüler, sieben, acht Jahre alt. Die sind fasziniert von den Figuren, das Pferd, der König, die Dame, die Bauern. Manchen bringe ich Schach bei. Die Eltern sind auch begeistert, weil ihre Kinder etwas Vernünftiges tun. Später setzen sich Erwachsene dazu und spielen. Das ist die Idee: Es geht mir darum, Menschen aus dem Grätzl zusammenzubringen, jung und alt, Männer und Frauen, verschiedene Nationen. Es macht einfach Spaß.
Schach ohne Grenzen
Was Kineke 2015 begonnen hat, gibt es seither zum Beispiel jeden Freitag ab 17 Uhr als „chess unlimited“ am Platz der Menschenrechte vor dem Museumsquartier. Die Leute kommen zum Spielen. Oder auch zum Reden. Sie verbessern ihr Deutsch, lernen jemanden kennen, finden eine Wohnung. Sie sind unter Menschen. Das ist am Volkertmarkt nicht anders.
Irgendwann saßen sich dort zwei Wiener gegenüber und haben Chinesisch geredet: der eine studiert die Sprache, der andere unterrichtet sie. Ein toller Zufall. Nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine kamen Menschen, die von dort geflüchtet waren. Es kommen Außenseiter, Alkoholiker, Lehrer. Es kommen eher nicht die Eiligen, sondern diejenigen, die sich ein bissl Zeit nehmen können. Die Sprache ist nicht wichtig. Es ist alles niederschwellig und unkompliziert.
Entdeckung durch Netflix
Das macht Schach aus. Man begegnet jemandem ohne Vorwissen, ohne Kenntnis der Person. Man kennt die Regeln, man geht in medias res. In Covid-Zeiten haben viele Schach wegen der Möglichkeit zum Online-Spiel für sich entdeckt. Seither spielen die Menschen aber verstärkt auch wieder mit echten Gegnern, mit Menschen, die ihnen gegenüber sitzen.
Nicht unwesentlich für den Schach-Boom war die Netflix-Serie The Queen’s Gambit. Viele haben das Spiel damals für sich entdeckt. Es ist eine sehr kontemplative Sache. Man lässt sich auf etwas ein ohne zu wissen, wo das hingeht. Um das klarer zu sagen: Die Anzahl der möglichen 40-zügigen Schachpartien ist mit 10¹²⁰ größer als die Anzahl der Atome im Universum 10⁸⁰.
Da sehe ich auch eine Parallele zu meinem Beruf als Psychoanalytiker. Die Psychoanalyse ist die Wissenschaft vom Nichtwissen. Man kann das Unbewusste einfach nicht fassen. Die Grundsatzfragen dieser Wissenschaft beschäftigten mich theoretisch, als Vortragender und als Publizist. Meine klinische Praxis betreibe ich im 6. Bezirk. Und als Lektor bin ich damit befasst, Technikern an der TU Wien Psychoanalyse und Wissenschaftstheorie nahezubringen. Unterschiedliche Disziplinen, unterschiedliche Menschen zueinander zu bringen, das reizt mich eben.
Ruhe im Kaffeehaus
Mich begleitet Schach seit dem 8. Lebensjahr. In der Studienzeit ist es dann intensiv geworden. Und während meiner früheren Tätigkeit als Sozialpädagoge war das Spiel immer zur Erholung und Entspannung wichtig. Diese geordnete Form der Auseinandersetzung tut einem besonders gut, wenn man den ganzen Tag über intensiv mit Menschen zu tun hat.
Ich spiele seit vielen Jahren im Schachklub Hörndlwald im Café Weidinger. Weil wir uns nicht als Sportklub, sondern als Kulturverein verstehen, weiß der Wirt dort unsere Anwesenheit besonders zu schätzen: wir Schachspieler bringen Ruhe in sein Kaffeehaus.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Link: www.nelke.at
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.