Eva Siebert, 40, wohnt und arbeitet als Modistin in der Leopoldstadt: In der Großen Pfarrgasse 12 betreibt sie ihr Hutmode Biester genanntes Atelier.

Meine Familie wollte unbedingt, dass ich etwas studiere. Mein Vater war der erste Akademiker in der Familie. Da sollte ich nicht nachstehen. Ich bin in Meschede aufgewachsen, einer Kleinstadt zwischen Dortmund und Kassel. Da hätte ich natürlich in Köln oder sonst irgendwo in der Nähe an die Uni gehen können. Aber ich wollte lieber weiter weg sein.
Ein Jahr in Nebraska
Schon während der Schulzeit hatte ich ein Jahr in Nebraska verbracht, nach dem Abitur habe ich noch ein soziales Jahr in Bolivien absolviert. So hat es mich zum Studium dann eben nach Berlin gezogen. Dort habe ich Soziale Arbeit inskribiert und schnell gespürt, dass das für mich eigentlich keinen Sinn macht. Ich wollte immer gerne ein Handwerk lernen. Also habe ich mir nach dem Abschluss eine Lehrstelle gesucht und landete eher zufällig in einer Modisterei in Berlin.
Das Hutmachen kommt mir einfach gelegen. Da geht es um überschaubare Projekte. Man macht wenig Umwege, fängt am Morgen etwas an, was am Abend fertig sein kann. Es gibt so viele schöne Materialien, so viele Textilien, so unterschiedliche Texturen! Nach drei Jahren Ausbildung war ich Gesellin und habe anschließend noch von Berlin aus eine Stelle gesucht – und schließlich gefunden: bei der Hutmanufaktur Mühlbauer in Wien. Das war superspannend. Total nette Kollegen, interessante Arbeit, alles bestens. Sieben Jahre war ich dort, mit einem Jahr Babypause. Meine Tochter Anna ist jetzt zehn und mein Geschäft in der Großen Pfarrgasse vier Jahre alt.
37 Quadratmeter, Klo am Gang
Dass ich irgendwann selbständig werden will, war immer klar. Während meiner Anstellung bei Mühlbauer hatte ich schon einen Atelierplatz in der Nordbahnhalle. Vor Corona bin ich in einen Co-Working-Space in der Großen Sperlgasse gezogen. Und 2021 habe ich diesen kleinen Laden hier entdeckt und mit Freunden umgebaut. 37 Quadratmeter, Klo am Gang, ein Schaufenster, fünf Nähmaschinen und gerade genug Platz, um all mein Material zu lagern: Rohlinge aus Haarfilz und diverse Strohmaterialien wie Weizen- und Reisstroh, Fasern von Palmen und Affenbrotbäumen, Seegräser, Stoffe, Felle. Dazu kommt noch meine immer wachsende Sammlung an Holz-Modeln, die sicher bald die 200er-Marke knackt.

Aus diesen Dingen produziere ich Hüte und Kopfbedeckungen aller Art. Jedes Jahr entwerfe ich neue Modelle für zwei Saisonen: Herbst/Winter und Frühling/Sommer. Zur Hälfte verkaufe ich die Sachen fertig, zur Hälfte arbeite ich auf Maß. Das ist ein wunderbares Beispiel für slow fashion. Alles passiert in Echtzeit: Die Kundschaft kommt rein, wir suchen das passende Material und entwickeln gemeinsam das Produkt.
Nachdruck, damit es dann passt
Ich muss auf den Kopfumfang achten, auf die Frisur, auf das Empfinden der Person. Manchen stehen einfach alle Hüte gut. Bei anderen muss ich mich mitunter mit etwas mehr Nachdruck einbringen, damit das Ergebnis dann auch passt. Die Menschen sind eben so verschieden wie die Hüte, die sie dann tragen. Immer achte ich darauf, dass die Kopfbedeckung am Ende leicht und weich ist. Das ist gerade auch bei größeren Köpfen wichtig.
Damit ich meine Kollektionen für die Website ansprechend fotografieren kann, lade ich meist Freunde ein, manche davon auch über den Bezirk hinaus bekannt. Die Winterhauben auf der Hauptseite präsentiert Laura. Hermine und Sophia sind mit den Sommerhüten zu sehen. Die drei fröhlichen Herren mit den Wintermodellen, das sind Wolfgang, Heinz und Freddie.
Luftig und grün
Für mich selbst mache ich eher Kappen, entweder mit Schild oder auch in Haubenform. Kappen stehen mir besser als Hüte und passen auch gut zur mir als Radfahrerin.
Den zweiten Bezirk habe ich recht schnell für mich entdeckt. Meine erste Wohnung lag noch in der Brigittenau, dann bin ich aber schon ins Stuwerviertel gekommen, weiter in die Castellezgasse gezogen und schließlich gleich hier in der Nachbarschaft gelandet. Der siebte Bezirk wäre mir zu eng, zu dicht. In der Leopoldstadt hingegen ist es schön luftig und grün.

Weil hier auch viele Jüdinnen und Juden zuhause sind, hatte ich erwartet, dass der eine oder die andere mal Kundschaft wird. Die Herren sind aber besonders zurückhaltend, die kommen vor allem mit Reparaturwünschen. Gelegentlich kommen Damen mit Auftragsarbeiten, weil sie gesehen haben, dass ich auch alle möglichen Kopfbedeckungen für Feste oder feierliche Anlässe im Angebot habe.
Was aber wirklich immer gut funktioniert: Workshops. In zwei Tagen zu jeweils vier Stunden führe ich die Menschen dabei in das Handwerk ein, zeige ihnen, worauf es ankommt. Sie lernen Materialien und Techniken kennen. Und gehen am zweiten Abend mit dem eigenen Hut aus dem Haus. Wie gesagt: Ich liebe überschaubare Projekte.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Link: https://hutmode-biester.com
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.