Mit ihrem neuen Buch „Am Semmering“ hat die in der Leopoldstart lebende Schriftstellerin Tanja Paar, 54, ihren Großeltern ein Denkmal gesetzt.

Anfang der 1990er Jahre bin ich aus Graz nach Wien gekommen, geradewegs in die Brigittenau. Ich hatte mein Studium – eine Kombi aus Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte, also alles und nichts – längst noch nicht abgeschlossen und wollte Journalistin werden. Meine erste Station war der „Falter“, wo ich neben Roland Koberg Theaterkritiken schrieb und dabei die Stadt und ihre Menschen kennenlernte.
Erster Eindruck: Hannovermarkt
Einen besonders starken Eindruck hat der Hannovermarkt damals bei mir hinterlassen. Ich kannte die Bauernmärkte aus Graz. Käferbohnen, Kürbiskernöl, Bauernbrot, Speck, Selchwürste. Aber so etwas hatte ich noch nicht erlebt: Türkisch, Multikulti, Orientalisch, Wienerisch, alles in einem, phantastisch. Ich war angekommen.
Seit 26 Jahren lebe ich jetzt in meiner Wohnung im Zweiten, auf der Praterstraße. In fünf oder zehn Minuten bin ich zu Fuß überall wo ich schnell hin will. Am Bahnhof (Praterstern). Im Zentrum (1. Bezirk). Im Wald (Prater). Mit dem Rad fahre ich in die Lobau (Nationalpark) oder zum Schwimmen an die Alte Donau (Lagerwiese). Ich gehe gern und viel. Da fallen mir Dinge ein, die ich zum Schreiben brauche. Mittags bin ich regelmäßig eine Stunde unterwegs, oft am Donaukanal (Luft, Wasser, Licht). Oder im Augarten (Natur, Augenweide). Ein besonderer Luxus meines Schriftstellerinnen-Lebens: mit dem Laptop ins Gänsehäufel (Arbeit). Ich möchte eigentlich nirgendwo sonst leben.
Buchpräsentation im Hotel Pathans
In den vergangenen Jahren hat mich aber eine andere Gegend recht intensiv beschäftigt: der Semmering. Das Ergebnis – meinen neuen Roman „Am Semmering“ – habe ich in einer Vorpremiere gerade an einem der Originalschauplätze präsentiert: im berühmten Hotel Panhans, wo im Februar 1928 auch Josephine Baker abgestiegen war, mit ihrem Ehemann und zehn Koffern voller Kleider. Wie die Baker, das Panhans, der aufkommende Faschismus und die Eisenbahn dort oben mit der Geschichte meiner Großeltern verwoben sind, erzähle ich im Roman, der sich aus deren Erzählungen speist.
Gewidmet habe ich dieses Buch meiner Mama Sonja, die im Frühjahr gestorben ist und leider nur mehr die Hälfte davon lesen konnte. Sie war die erste Akademikerin in der Familie, Konsekutivdolmetscherin für Italienisch und Englisch.
Klara und Bertl
Ich bin in einem Drei-Generationen-Haushalt mit meinen Großeltern, also mit ihren Eltern aufgewachsen, mit Klara und Bertl, wie sie auch im Roman heißen: „Die Bauern hatten Klara und Bertl von Anfang an für rotes Gesindel gehalten und würden ihre Ansichten nicht ändern. Früher war ihr das egal gewesen, aber jetzt war es gefährlich. Angezeigt wurde schnell. Deswegen duldete sie auch nicht einen einzigen Flugzettel bei ihnen zu Hause, keinen einzigen. Die andere Seite war da weniger zurückhaltend. Sie wunderte sich immer wieder über die Zahl der Kornblumenträger, ganz ungeniert gingen sie damit ins Gasthaus, trugen die Blumen deutlich sichtbar im Knopfloch am Janker, so wusste ein jeder sofort, bei wem er sich da an den Tisch setzte.“

Besonders freut mich, dass man den Roman jetzt auch wandernd erleben kann. Irene Beckmann, die am Semmering aufgewachsen ist, organisiert als zertifizierte Wanderführerin sogenannte Kulturwanderungen. Da geht es auf einer „Alma Mahler-Werfel Wanderung auf die Speckbacherhütte“ oder „Auf den Spuren wegweisender Frauen“ über den Semmering. Jetzt kann man über ihre Website luxusgaemsen.at auch eine Wanderung zu den Schauplätzen meines Romans buchen. Festes Schuhwerk ist empfohlen!
Eigentlich hätte ich Teile des Romans am Semmering schreiben wollen. Es gibt dort immer noch das Bahnwärterhäuschen, in dem meine Großeltern gewohnt haben. Heute steht es leer, wurde saniert und ich hätte mich gerne dort eingemietet. Leider ist daraus nichts geworden. Stattdessen hatte ich aber die Ehre, in der Romanwerkstatt im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin zu arbeiten.
„Bescheuerter Flug“ nach Berlin
Mit meinem Semmering-Stoff war ich als einzige Teilnehmerin aus Österreich ausgewählt und kam so ein halbes Jahr lang jeweils für drei Tage pro Monat zum professionellen Austausch über meinen und andere werdende Romane nach Berlin. Das hat mir und dem Buch gutgetan.
Schöner Nebeneffekt: ich war dann immer als Couch-Surferin bei meinem Sohn, der in Berlin lebt. Dass ich da jeweils mit dem Flugzeug angereist bin, ist in seinen Augen total bescheuert. Und da hat er natürlich recht.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Links: https://tanjapaar.at
https://www.residenzverlag.com/buch/am-semmering
https://www.luxusgaemsen.at
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.