Wenn das Leben Pause macht
Daryna Lema, 38, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, lebt seit ihrer Flucht aus der Ukraine mit ihren Kindern in der Brigittenau.

Seit drei Jahren sind wir jetzt in Wien, seit dem 5. März 2022. Ich erinnere mich gut. Wir waren vier Tage im Auto unterwegs, haben im Auto geschlafen. Es war schwierig, Benzin zu bekommen. Es gab Probleme mit den Telefon- und Internetleitungen. Es war eine gefährliche Reise durch die Ukraine bis zur polnischen Grenze. Als wir losgefahren sind, wusste ich nicht, wo wir ankommen würden. In Deutschland? In der Schweiz? In Österreich?
Ich bin Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Bis zum Beginn dieses großen Krieges hatte ich mein ganzes Leben in Kyjiw verbracht. Ich hatte eine erfolgreiche, expandierende Privatpraxis aufgebaut und mit erwachsenen Patienten gearbeitet, die unter Persönlichkeitsstörungen litten. Ich wollte meine Dissertation schreiben und promovieren.
Und plötzlich war alles anders
Im Februar habe ich noch vorzeitig den Kredit für meine Wohnung und mein Auto abbezahlt. Mit dem Gefühl der Erleichterung bin ich mit den Kindern in den Urlaub nach Ägypten gefahren. Nach unserer Rückkehr war plötzlich alles anders.
Kollegen aus verschiedenen Ländern haben mir vom ersten Kriegstag an Nachrichten geschickt, dass ich das Land verlassen sollte, sie würden mir helfen. Ich habe geantwortet, dass ich bereit bin, ihre Hilfe anzunehmen. Dann haben wir uns auf den Weg gemacht.

Wir sind im 20. Bezirk in der Hartlgasse gut aufgenommen worden. Unsere Vermieterin hat uns die ersten Monate gratis wohnen lassen und auch sonst stark unterstützt. Schritt für Schritt haben wir uns ein neues Leben aufgebaut. Mein Sohn Rostyk ist acht Jahre alt und besucht die Volksschule in der Greiseneggergasse. Meine Tochter Sviata ist 15 und will jetzt in die HLMW9, „die Schule für Mode und Wirtschaft“ wechseln, um einen Beruf zu lernen und die Matura zu machen. Seit einer Weile verdiene ich in meinem Job als Betreuerin im Psychosozialen Dienst genug, dass wir die Wohnung auch regulär bezahlen können.
Viele Flüchtlinge aus der Ukraine haben viel Schrecklicheres erlebt. Besatzung. Erschießung von Verwandten. Ständige Bombardierungen. Das ist mir erspart geblieben. Aber selbst ich habe in den ersten Monaten in Wien das Geräusch eines Maschinengewehrfeuers gehört wenn die Gasheizung in der Wohnung angesprungen ist. Wenn die Waschmaschine bei hoher Drehzahl geschleudert hat, erlebte ich den Start eines Kampffliegers. Nach sechs Monaten merkte ich, dass ich Hilfe brauchte. Ich erkannte die Symptome einer Depression.
In fremder Kleidung in einem fremden Land
Für den 23. Februar 2022 war der Einzug in unsere neue Wohnung in Kyjiw geplant. Genau einen Monat später, am 23. März, stand ich in fremder Unterwäsche und fremder Kleidung in einem fremden Land an einer Lebensmittelausgabestelle für Flüchtlinge. Ich trug Schuhe, die mir zu groß waren. In Kyjiw lag eine Kiste mit teuren Spielsachen für meinen Sohn und ich reihte mich in eine langen Schlange im Hilfszentrum der Caritas, um abgelaufene Lebensmittel zu erhalten.
Ich war froh, dass wir nicht verhungern mussten. Aber zugleich konnte ich es kaum fassen, dass ich um unansehnliches, teils fauliges Gemüse bitten musste. Ich war froh, dass ich von der Republik Österreich finanzielle Unterstützung bekommen würde. Aber wie sollten wir die drei Monate bis zur ersten Auszahlungen überstehen? Im Lebensmittelverteilzentrum war manchmal gute Trüffelbutter zu finden, aber weder Milch, noch Brot, noch Gemüse. In einem der wohlhabendsten Länder der Erde waren Menschen plötzlich mit einer künstlich geschaffenen Nahrungsmittelknappheit konfrontiert.
Am Punkt maximaler Erschöpfung
Seit ich beim Psychosozialen Dienst arbeite, sehe ich sehr viele Facetten des Lebens ukrainischer Flüchtlinge. Die meisten von uns sind inzwischen mit den langfristigen Folgen ihrer Traumatisierung belastet. Der typische Fall des ukrainischen Flüchtlings ist eine Frau mit ein bis drei Kindern, ohne Verwandte, ohne Ehemann, ohne soziales Auffangnetz.
Einer der schwerwiegendsten Faktoren ist die Ungewissheit. Unser Aufenthaltsstatus wurde zwar immer wieder verlängert. Aber so lebt man im besten Fall von März bis März. Allein dieser Aspekt bringt das Nerversystem eines erwachsenen Menschen an den Punkt maximaler Erschöpfung.
Drogen werden zum systemischen Problem
Besonders schwer ist es für Jugendliche und junge Erwachsene. Immer mehr von ihnen geraten aufgrund ihrer Unreife und Verwundbarkeit in eine Umgebung mit antisozialem Verhalten und beginnen, Drogen zu konsumieren. Nicht wenige werden als Drogenkuriere missbraucht, sie arbeiten quasi „für eine Dosis“. Solche Fälle wachsen sich sehr schnell in ein systemisches Problem aus. Das würde eine systemische Lösung erfordern, die wird aber nicht angeboten.
Ich könnte weiter erzählen, über die Sprachbarrieren und den Arbeitsmarkt reden. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass wir weder zu Hause noch wirklich im Exil sind. Wir sind immer irgendwo dazwischen. Wir leben ein Leben „auf Pause“, in dem es weder Ruhe noch Richtung gibt.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.