Lernen für eine inklusive Gesellschaft
Die Pädagogin Karin Feller leitet die Integrative Lernwerkstatt Brigittenau.

Unsere Schule ist in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes. Das Fundament, auf das wir aufbauen, in einem Satz: Alle, die hier ein- und ausgehen, sollen sich verwirklichen können, sollen sich wertgeschätzt- und wohlfühlen. Aus all den Besonderheiten hervorzuheben ist der Umstand, dass wir – fast – ohne Noten auskommen. Als ich 2007 von der Volksschule Pfeilgasse im 8. Bezirk an die Integrative Lernwerkstatt Brigittenau (ILB) gewechselt bin, war sie als „Schulversuch ohne Noten“ geführt.
Die Grundidee: Noten sind nur bedingt aussagekräftig und daher kein taugliches Mittel für eine umfassende Leistungsbewertung. Auf Basis dieser Erkenntnis hat die ILB seit ihrer Gründung durch Josef Reichmayr 1998 klaglos funktioniert. Die Pädagogik-Paket der damaligen Schwarz-Blau-Regierung hat dem nach 20 Jahren jedoch ein Ende gesetzt: Wir wurden verpflichtet, Noten zu vergeben.
Noten erst nach sieben Schuljahren
Gemeinsam mit den Eltern/Erziehungsberechtigten haben wir folgende Lösung entwickelt: Sie ersuchen uns schriftlich, dass wir das Zeugnis ihres Kindes in der Direktion hinterlegen, bis es die ILB verlässt. So bekommen unsere Schüler:innen die Noten der ersten sieben Schuljahre erst zu Gesicht, wenn sie diese absolviert haben.
Zu dem Zeitpunkt ist die potentiell nicht so gut ausgefallene Biologie-Note von vor zwei Jahren weitgehend unerheblich. Wichtiger als Noten sind uns die reflexiven Gespräch über das Lerngeschehen mit den Schüler:innen und deren Eltern/Erziehungsberechtigten. Wir sind schließlich fast alle mit Noten groß geworden, müssen also erst lernen, dass es anders und wie es ohne geht.
Viele Eigenheiten, viel Förderbedarf
Auch darüber hinaus wird bei uns vieles anders als in regulären Schulen gehandhabt. So werden die Kinder vom 1. bis zum 8. Jahrgang in Mehrstufenklassen unterrichtet. Dieses Modell gibt es sonst an keiner anderen Schule im ganzen Land. Etwa ein Fünftel unserer 400 Schüler:innen hat einen ausgewiesenen Förderbedarf, zum Beispiel wegen ihres Autismus-Spektrum-Syndroms, einer Entwicklungsverzögerung, einer Sehbehinderung oder des Down-Syndroms. Aber auch die anderen vier Fünftel sind Individuen mit Eigenheiten, die es zu berücksichtigen gilt.
Wir wollen, dass die Kinder, die alle gerne und lernwillig in unsere Schule eintreten, acht oder mehr Jahre hindurch in ihren Potentialen gefördert werden und sich weiterentwickeln können. Wir sind stolz darauf, dass viele Schüler:innen sich unserem Haus sehr verbunden fühlen und teils sogar einmal im Jahr zurückkehren, um den aktuellen Schüler:innen und deren Eltern/Erziehungsberechtigten über ihre Erfahrungen in weiterführende Schulen und Ausbildungen zu berichten.
NICHTS MEHR VERPASSEN

Ich habe mich 2019 um die Schulleitung beworben und führe die Schule seitdem mit der Unterstützung eines fünfköpfigen Leitungsteams. Schuldemokratie ist uns ein wesentliches Anliegen. Schüler:innenpartizipation wird durch ein Schulsprecher:innenteam realisiert, das sogenannte S*TEAM. Das wird geschlechterparitätisch besetzt und trifft sich jede Woche. Zwei- bis dreimal jährlich tagt zudem unser Schulparlament, bei dem alle Interessierten Anträge einbringen können, über die dann abgestimmt wird.
Zusätzlich zu unserem Standort in der Brigittenau haben wir seit über zehn Jahren einen Lernort in der Natur, in der Stockerauer Au. Dort werden im Rahmen von zweiwöchigen Projekten zum Beispiel Beete angelegt, ein Baumhaus gebaut, ein Kanu konstruiert, Fahrräder repariert, Obst und Gemüse haltbar gemacht, Stoffe mit Naturfarben gefärbt und weitere tolle Ideen verwirklicht und die theoretischen Lerninhalte durch praktisches Tun umgesetzt.
Berufspraktische Tage im Grätzel
Abseits dessen versuchen wir auch den Kontakt nach außen zu pflegen. Wir bemühen uns das Grätzl einzubeziehen und freuen uns, wenn die Jugendlichen berufspraktische Tage in den umliegenden Betrieben absolvieren können. Wir sind in bestem Einvernehmen mit der Bezirksvorstehung und genießen den Ruf, eine besonders begehrte Schule zu sein.
Es ist uns wichtig, dass die Eltern verstehen, worum es in unserer Schule geht: Der Umstand, dass bei uns zwei Lehrer:innen in einer Klasse stehen, soll nicht die Hauptattraktion sein. Vielmehr möchten wir das Verständnis für eine inklusive Gesellschaft vorantreiben – als Schule sind wir da am Beginn eines langen Weges. Zusammen mit engagierten Eltern/Erziehungsberechtigten wollen wir die Schule weiterentwickeln und haben dafür eine schuleigene Qualitätskommission ins Leben gerufen. Wir schätzen uns glücklich, hier so unterstützt zu werden!
Es liegt noch Vieles vor uns, das wir nur gemeinsam schaffen können.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Link:
https://lernwerkstatt.or.at
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.