„Ich erlebe den Bezirk sehr intensiv”
Gesundheitsplaner Otto Rafetseder, 61, versucht von seiner Dienststelle in der Brigittenau aus, das Gesundheitssystem effizienter zu machen. Und kritisiert die Bezirkspolitik.

Ich bin ein zugereister und begeisterter Brigittenauer. 1991 habe ich beim Augarten meine erste Wohnung gemietet. Bald darauf bin ich zwar weitergezogen, nach Australien, nach Uganda, Angola, in den Sudan. Elf Jahre lang hatte ich die Wohnung untervermietet, bevor ich mich wieder dort eingerichtet habe. 2006 sind wir, meine Frau, unser Sohn und ich, schließlich ein paar Gassen weiter in eine größere Wohnung übersiedelt.
Längst schon habe ich auch meine berufliche Adresse in der Brigittenau. Und so erlebe ich den Bezirk auf kurzen Wegen sehr intensiv.
Missionen in Afrika und Asien
Ich bin Mediziner, habe in Linz als Arzt gearbeitet und in Sydney Public Health studiert. 1994 hat mich der Gründer der österreichischen Sektion von Ärzte ohne Grenzen aufgrund dieser Kombination als ersten Österreicher für einen Auslandseinsatz rekrutiert. Von da weg hat sich eine Mission an die andere gereiht, sechs Jahre lang, zuletzt für die Weltgesundheitsorganisation im Kampf gegen Polio im Südsudan und in Pakistan.
Heute bin ich als Gesundheitsplaner in der Stadt Wien tätig. Der Gesundheitsfonds des Landes Wien ist in der städtischen Struktur bei der MA24 angesiedelt und mit einem Budget von vier Milliarden Euro so groß wie das Innenministerium oder zwei mal so groß wie das Verteidigungsministerium. Daraus resultiert eine ganz andere Form der Wirksamkeit, man arbeitet mit einem sehr großen Hebel.
Teures und ineffizientes System
Der Befund ist eindeutig: unser Gesundheitssystem ist hoch fragmentiert, teuer, ineffizient und funktioniert nach dem Motto throwing money at the problem. So etwas lässt sich nicht in einem Aufwischen reparieren. Es hat 15 Jahre gedauert, das Konzept der Primärversorgungszentren zu erdenken und umzusetzen. Multiprofessionelle Teams behandeln heute gemeinsam und aufeinander abgestimmt die Patient*innen. Da ist mit langer Anlaufzeit also Grundlegendes gelungen. Insofern empfinde ich das als eine sehr befriedigende Tätigkeit.
Ein anderes, griffiges Beispiel sind die teuren Medikamente. Eine Dosis Zolgensma etwa kostet mehr als zwei Millionen Euro. Mit diesem Medikament behandelt man einen Gendefekt, die spinale Muskelatrophie. Bekommt ein davon betroffenes Kind bis zur sechsten Lebenswoche dieses Medikament, kann es sich normal weiter entwickeln. Andernfalls stirbt es innerhalb der ersten vier Jahre.
NICHTS MEHR VERPASSEN

Gesundheitssysteme tendieren zum Abschieben eines teuren Patienten in ein anderes Gesundheitssystem. Ein Baustein der Gesundheitsreform war die Einführung eines Bewertungsboards für diese hochpreisigen Arzneimittel: Medizinwissenschaftler entscheiden dort über den Mitteleinsatz im Rahmen eines Finanzierungspools. Die Politik hält sich an die Empfehlung dieses Gremiums. Auch da kann man sagen, dass wir wirklich etwas zusammengebracht haben.
Kulinarisches aus aller Welt
Mit meiner Dienststelle in der Brigittenau in enger Verbindung steht der Umstand, dass ich oft und gerne Mittagessen gehe. Kulinarisch hat sich der Bezirk großartig entwickelt. Türkisch, irakisch, koreanisch, vietnamesisch, es gibt fast nichts was es nicht gibt.
Besonders gern esse ich beim Vietnjam auf der Rauscherstraße. Die haben 2020 eine Woche vor dem ersten Lockdown aufgemacht und diese Zeit zum Glück überlebt. Ebenfalls sehr zu empfehlen sind die koreanischen Speisen, die im Namum Supermarkt auf der Dammstraße angeboten werden.
Viele Umfragen, keine Taten
Der einzige Wermutstropfen ist die Stadtentwicklung in unserem Bezirk. Wer die Wallensteinstraße kennt, weiß wovon ich spreche. Kein Verkehrskonzept, kein Begrünungskonzept, kein nennenswertes kaufmännisches Leben.
Ein anderes Beispiel: das sogenannte Stadtentwicklungsgebiet Nordwestbahnhof. Ständig werden irgendwelche Umfragen gemacht. Aber weit und breit sind keine einschlägigen Taten zu sehen. Man hat durchgehend das Gefühl, dass die Bezirksverwaltung schläft. Als Bezirksbürger sehe ich, wie sehr viele andere auch, also erhebliches Verbesserungspotential.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.