Vom Glück in der Leopoldstadt
Der Übersetzer und Musikliebhaber John Nicholson, 68, pendelt täglich zwischen der Darwin- und der Czerningasse.

Für mich ist es ein Glück, in der Wiener Leopoldstadt zu leben. Abends kurz vor sieben kann ich aus dem Haus in der Darwingasse gehen und bin rechtzeitig um halbacht im Konzerthaus, um dort einen Kammermusik- oder einen Liederabend zu genießen. Ein paar Minuten in die eine Richtung, und schon bin ich im Prater; ein paar in die andere bringen mich in den Augarten.
Mein Fußweg in die Arbeit führt in zehn Minuten über die Heine- und die Praterstraße in die Czerningasse, wo wir bis 2017 gewohnt haben. Dort habe ich eine alte Hausbesorgerwohnung zum Büro umgerüstet. In den letzten 25 Jahren hatte ich das Glück, als Übersetzer an Projekten zu arbeiten, die mich wirklich begeistert haben, an hochkarätigen Texten über Kunst, Kunsthandwerk oder Geschichte. Dabei sind schöne Bücher entstanden, etwa für das Museum für Lackkunst in Münster oder das Kunsthistorische Museum hier in Wien.
Besonders gerne übersetze ich Ausstellungstexte für das exquisite Porzellanmuseum im Augarten. Über die Jahre hat mir die Musik stets großes Glück gebracht.
Singen in der Schottenkirche
Meine Schullaufbahn in England war vom Sport bestimmt, aber gegen Ende der Schulzeit habe ich den Gesang entdeckt. Von da an habe ich ständig in Chören gesungen, auch als Lehrer an einer englischen Sängerknabenschule. Als ich 1984 nach Wien kam, hatte ich das Glück, im Arnold Schönberg Chor zu singen und auch in Opernchören, etwa an der Wiener Kammeroper.
Vier Jahre lang habe ich von und für den Gesang gelebt. Jetzt, 40 Jahre später, singe ich im Chor der Schottenkirche, wo wir die gute alte protestantische Musik von Heinrich Schütz pflegen. Gregorianischen Choral singe ich auch gern, was auch mit meinem Lebensweg zu tun hat.
Eineinhalb Jahre im Kloster
Nach meiner Rückkehr nach England im Jahre 1989 war ich für eine Musikagentur tätig. Doch nach einigen Jahren bin ich meiner lang gehegten Sehnsucht nach dem geistlichen Leben in der christlichen Tradition nachgegangen. Drei Jahre lang gehörte ich einer kleinen Klostergemeinschaft in Baden-Württemberg an. Anschließend war ich eineinhalb Jahre Mitglied eines Benediktinerklosters auf der Isle of Wight. Diese fünf Jahre klösterlichen Lebens waren eine schöne Zeit, die ich gebraucht habe; Mönch bin ich dann aber nicht geworden.
Ende 1998 bin ich nach Wien zurückgekehrt, 2001 habe ich meine Frau Melanie geheiratet. Im selben Jahr übersiedelten wir in die Leopoldstadt, wo unsere Kinder Stella (2001) und Timmy (2003) beide zuerst am Czerninplatz und dann in der Zirkusgasse in die Schule gegangen sind. Für mich ist die Familie ein Riesengeschenk, das mein unstetes Leben stabilisiert hat.
Schwiegervater war Zwölfton-Komponist
Der Vater meiner Frau, Eugene Hartzell, war Zwölfton-Komponist in der Linie von Alban Berg. Da er im Jahre 2000 gestorben war, brachte die Eheschließung eine weitere Aufgabe, weil sein Nachlass fertig geordnet werden musste. Außerdem gab es ein offenes Projekt, ein Konzert mit einem Ensemble aus Odessa. Um Fördergelder beantragen zu können, mussten wir einen Verein gründen, das „Eugene Hartzell Office“.
Zehn Jahre habe ich mich intensiv um die Förderung seiner Musik bemüht, Konzerte organisiert und Ausgaben seiner nicht verlegten Werke vorbereitet. Dann kam eine lange Pause. Seit 2022 habe ich wieder Zeit dafür. Aus dieser Arbeit resultiert meine Hoffnung, dass die Musik von Eugene Hartzell in Zukunft geschätzt und gespielt wird.
Ein Leben ohne Wahlrecht
Zuletzt habe ich begonnen, mich um den vernachlässigten Hinterhof unseres Hauses zu kümmern. Nach fünf Jahren fängt er jetzt an, obwohl schattig und teilweise dunkel, wie ein echter Garten auszusehen. Auch diese Arbeit empfinde ich als sehr befriedigend. Mein Leben hat mir also viel Glück gebracht. Ich freue mich, wenn ich es teilen und verbreiten kann. Glück wird nämlich erst dann wirklich sinnstiftend.
Im Herzen bin ich Sozialist, im Kopf aber eher unentschieden, und politisch bin ich zu meiner Schande eher passiv. Trotzdem würde ich auf jeden Fall wählen, wenn ich dürfte. Allerdings: meine Frau, obwohl in Wien geboren, ist US-Staatsbürgerin, ich bin Brite und unsere Kinder sind das auch. Zusammen haben wir über 90 Lebensjahre in der Leopoldstadt verbracht. Aber keiner von uns darf hier wählen. Das ist nicht richtig.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.