„Wie Tinder, aber ohne Sex“
Als Vorstandsvorsitzende von „love politics“ arbeitet Sonja Jöchtl, 49, in ihrer Wohnung im Stuwerviertel. Im Brotberuf ist sie als Chief Culture Officer in einem Forschungszentrum jenseits des Donaukanals tätig.

Wir haben neben dem Vertrauensverlust mindestens zwei weitere große Probleme in der Politik: die Repräsentationslücke und die Zugangshürden. In Parlamenten, in Gemeinderäten, in politischen Ämtern sind bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht mehr oder nicht angemessen repräsentiert. Zum anderen fehlt Menschen, die sich engagieren möchten, oft das Wissen, wie sie konkret einsteigen können. Beides wird seit Jahren nicht adäquat thematisiert.
Wenn ich so ein Vakuum sehe, dann springe ich da gerne rein. Gemeinsam mit Winfried Kneip, Michael Schiebel und mit der Unterstützung von namhaften Politiker*innen aus unterschiedlichen Parteien habe ich deshalb vor drei Jahren den Verein love politics gegründet, um Politik zugänglicher, repräsentativer, wirksamer zu machen. Und zwar durch ein Ausbildungsprogramm für politische Talente.
Starke Nachfrage bei erstem Lehrgang
Im ersten Lehrgang 2023/24 hatten wir 1.243 Bewerber*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. 35 konnten wir aufnehmen, 28 haben abgeschlossen. Unterrichtet wurden sie über neun Monate hinweg von 50 Vortragenden.
Die große Nachfrage ist beachtlich, aber die Problemlage ist das ja auch. In Deutschland etwa fehlen akut 600 Bürgermeister und tausende Gemeinderäte. Das liegt auch daran, dass Parteien dazu tendieren, sich stark abzuschotten, das aber nicht als Herausforderung anzunehmen.
Dabei ist es eigentlich unübersehbar: es gibt immer mehr Politik ohne Parteien, inzwischen kommen ganze Gemeinden ohne Parteien aus. Wenn aber Menschen sich maximal noch über Namenslisten organisieren, dann wird es spätestens bei der Amtsübergabe problematisch. Da gibt es viel böses Blut, aber keinerlei Wissenstransfer. Sie haben kein Organisationswissen und auch kein Netzwerk, also keine Landespartei, keine Parteiakademie auf die sie zurückgreifen könnten.
Love politics in Deutschland und der Schweiz
Die zweite Runde im September starten wir nun mit drei Lehrgängen in Österreich, sechs in Deutschland, einem in der Schweiz und einem in Liechtenstein. Wir arbeiten dabei defakto alle ehrenamtlich, kostenschonend ohne Büro, also in unseren Wohnungen.
Meine Adresse in der Stuwerstraße ist zugleich unsere Vereinsadresse und mein Arbeitsplatz als Vorstandsvorsitzende und Gesamtleiterin. Georg, mein Mann, und unsere beiden Söhne Lennard (15) und Vincent (6) sind diesbezüglich sehr tolerant.
Faszinierendes Stuwerviertel
Seit 13 Jahren sind wir im Stuwerviertel zuhause. Ich hab schon in den 1990er Jahren im Zweiten gewohnt, als es noch nicht hip war. Und ich liebe ihn. Aber Stuwerviertel und Stuwerstraße sind noch einmal etwas ganz Besonderes. Zwischen dem einen Billa unten an der Venediger Au und dem zweiten Billa, weiter oben, direkt neben dem indonesischen Lebensmittelladen Toko Sederhana, treffe ich ständig Freunde, Bekannte und bekannte Menschen. Genauso ist das am Vorgartenmarkt. Das ist ein besonderer Mix und ich überlege immer gleich, wie man all diese Leute miteinander vernetzen könnte.
Im Brotberuf bin ich seit bald drei Jahren als Chief Culture Officer beim Complexity Science Hub (CSH) angestellt. Diese europaweit vernetzte interdisziplinäre Forschungszentrum extrahiert aus großen Datenmengen Lösungsansätze für gesellschaftliche Herausforderungen in den Bereichen Gesundheit, Wirtschaft, Stadtentwicklung, soziale Gerechtigkeit. Die Grundidee ist einfach: es gibt an vielen Universitäten Komplexitätsforscher, die tendenziell dort vergleichsweise einsam sind. Bei uns agieren sie in einem Netzwerk, sind also schneller und effektiver.
Eigentlich wollte ich den Hub als Partner für love politics anwerben. Aber dann haben sie mir ein Angebot gemacht, das ich annehmen musste. Und ich bin so froh darüber: der Laden ist sehr international, sehr jung, sehr hungrig, sehr relevant. Davon hat man in Österreich insbesondere während der Covid-19-Pandemie profitiert: CSH konnte die Politik in ihren Entscheidungen mit komplexen Simulationsmodellen unterstützen.
Vernetzung wird immer wichtiger
Die Stadt Wien hat das Potential erkannt. Sie fördert das CSH seither finanziell und unterstützt bei notwendigen Infrastrukturmaßnahmen, zuletzt etwa beim Umzug in das denkmalgeschützte Palais Springer-Rothschild im 3. Bezirk.
Der Wert von Netzwerken entgeht mir auch im Privatleben nicht. Immer wieder denke ich, dass wir dringend etwas auf die Beine stellen müssten, um all die interessanten Menschen zu vernetzen, die im zweiten Bezirk leben und arbeiten. So etwas wie Tinder, aber halt ohne Sex.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Links:
https://www.lovepolitics.net
https://csh.ac.at
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.