„Vielfalt ist unsere größte Ressource“
Vera Reumann, 50, Germanistin, Poetin und Lehrerin, unterrichtet seit 27 Jahren in der Regenbogenvolksschule GTVS Darwingasse.
Text: Ernst Schmiederer, Foto: Christopher Mavrič

Von Dogukan, einem türkischsprachigen Schüler, habe ich sehr früh etwas Wichtiges gelernt. Als ich versuchte, dem Buben das Wort „gelb“ beizubringen und ihm dazu einen gelben Farbstift zeigte, sagte er immer wieder: „sari“. Erst als ich mit „sari“ reagierte, sagte er „gelb“. Da hatte ich verstanden, dass auch er mir etwas beibringen wollte. Ein wichtiger Moment für mich. Vor einiger Zeit kam Dogukan einmal auf Besuch zurück in die Schule – ein selbstbewusster Erwachsener, Statiker von Beruf. Er fragte mich: „Bist du immer noch lebensfroh?“ Ja, bin ich. Nicht immer laut, nicht immer leicht. Aber immer suchend, tastend, offen.
Worte wollen gehört werden
Ich bin Burgenlandkroatin. Mein eigenes Deutsch kam erst im Kindergarten. Im Zuge eines Ferialpraktikums beim ORF Burgenland hat jemand gesagt, dass ich eine gute Radiostimme hätte. Das war ein erster Hinweis, dass Worte in mir klingen – und dass sie gehört werden wollen. Heute darf ich Brücken bauen zwischen Sprachen, zwischen Menschen.
Journalistin wollte ich werden. Doch das Leben wollte anderes. Meine Tochter wurde 1995 geboren, und plötzlich galt es, eine Existenz zu sichern, eine Ausbildung abzuschließen, eine Richtung einzuschlagen. So kam ich 1998 an die Regenbogenvolksschule Darwingasse – und bin bis heute geblieben.
NICHTS MEHR VERPASSEN

Die Kinder kommen aus vielen, sehr unterschiedlichen Kulturen und Ländern. 15, 16 Sprachen in einer Klasse gibt es dort bis heute. In den ersten Jahren war es mein Kollege Murat, der mich geduldig begleitete. Menschen wie er und Dogukan haben mich auch animiert, in die Türkei zu reisen und Türkisch zu lernen. Die Gastfreundschaft dort hat mich beschämt, weil ich aus meinem Alltag wusste, wie unsere Gesellschaft mit Fremden umgeht.
Boulevardblatt hetzt gegen die Schule
Zuletzt ist unsere Schule wieder einmal ins Licht der Öffentlichkeit geraten. Eine Boulevardzeitung hat versucht, Unruhe zu stiften. Wir würden Ramadan feiern, aber Weihnachten verweigern, hieß es da unter Berufung auf einen angeblich „wütenden“ Vater. Unsere Direktorin konnte das in einem Interview am Ende des Textes richtigstellen. Aber wer liest in so einer Zeitung schon so weit?
Ich habe Germanistik studiert – fast wie ein zweites, geheimes Leben. Bachmann, Jandl, Jonke – ihre Stimmen hallen in meinem Schreiben nach. Ich habe das Studium abgeschlossen, ohne dass es in der Schule jemand wusste. Vielleicht aus Scheu. Aber wohl auch, weil ich zeigen wollte: ich vernachlässige nichts. Ich verknüpfe, ich verbinde. Ich bin dankbar, dass ich meine Liebe zur Sprache vertiefen konnte.
Poesie wie Schlagzeugspielen
Dichtung ist lehr- und lernbar. Das sehe ich bei den Schulkindern und das habe ich an der Schule für Dichtung erfahren. Und zwar von Lehrenden, die der von mir bewunderten Beat-Generation nahestanden, wie Ed Sanders und Anne Waldman oder auch von Lotte Ingrisch, Gert Jonke, Teresa Präauer, Ernst Molden. Der hat gesagt, mein Schreiben wirke auf ihn wie Schlagzeugspielen. Das hat mich bestätigt in der Art, wie ich schreibe.
Inzwischen lehre ich, nach einer weiteren Ausbildung, auch Achtsamkeit und Resilienz. Ich lerne, mit den kleinen und großen Menschen, mit dem Leben. Gerade mache ich einen Cranio-Sacral Diplomlehrgang und richte mir einen kleinen Raum dafür ein – im ehemaligen Kinderzimmer meiner Tochter. Kreisläufe schließen sich, neue Wege öffnen sich. Eine wunderbare Arbeit. Wie schön, dass ich sie mit knapp 50 Jahren entdecken durfte. Das Lernen und Wachsen hört nie auf.
Ein Imbiss namens „freude now“
Der Schulalltag hat sich verändert, aber nicht meine Haltung. Ich glaube an das Potenzial jedes Kindes, Vielfalt ist unsere größte Ressource. Immer wieder treffe ich ehemalige Schüler und Schülerinnen zufällig im Grätzl. Ich staune, wie wunderbar sie sich entwickeln und wie sie ihre Wege gehen. Das bestärkt mich.
Ich bleibe.
Vielleicht auch, weil ich auf dem Heimweg immer wieder Freude finde – oft schon am Volkertplatz bei der „Nelke“, manchmal ein bissl später im „Café Else“ oder in der „Hafenkneipe“ am Donaukanal. Wenn ich es ein bissl größer anlege, nehme ich den Kümmelbratenbrotweg durch den Prater. Das ist eigentlich der Stadtwanderweg Nr. 9, der direkt zu einem von drei Schwestern geführten Imbiss namens „freude now“ führt. Die haben dieses belegte Brot auf der Karte. Als Poetin würde ich sagen: ein Gedicht.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.