„Brigittenau – das ist wie Favoriten ohne Tichy“
Drei Jahre lang hat Elif Ülker, 28, am einzigen Gymnasium im 20. Bezirk unterrichtet. Jetzt will sie wieder studieren.

Meine Ferien waren und sind immer noch schön. Erst war ich auf den Philippinen, wo wir den Opa einer Freundin besucht haben. Dann in Schweden und Norwegen. Und jetzt fahr ich noch auf eine Hochzeit nach Deutschland, irgendwo eine Stunde von Frankfurt entfernt im Nichts. Aber wenn ich ehrlich bin: Zwei Monate sind mir zu lang. Mir wird fad, ich muss was tun. Andererseits stimmt natürlich auch, dass wir diese Zeit zur Erholung brauchen, weil der Beruf so anstrengend ist und man sonst ins Burnout rutschen würde.
Um das zu vermeiden, habe ich mich entschlossen, ab Herbst erst einmal wieder an die Uni zu gehen. Ich habe Orientalistik und dazu Lehramt für Deutsch und Geschichte studiert und möchte meinen Master noch fertigkriegen. Neben der Schule war das beim besten Willen nicht zu schaffen.
Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf
Ich habe jetzt drei Jahre am einzigen Gymnasium der Brigittenau unterrichtet, in der Karajangasse beim Augarten. Deutsch und Geschichte, weil das die tollsten Fächer überhaupt sind. Im letzten Jahr hatte ich eine Zeit lang sogar eine volle Lehrverpflichtung. Im Endeffekt blieb da gerade mal ein Tag die Woche ohne Arbeit, weil ich am Sonntag schon wieder in den Vorbereitungen steckte. Ich sehe das auch bei den Kolleg:innen. Denen bleibt kaum Zeit für sich selbst, für Hobbies, für Freunde. Es ist schon ok, wenn man manchmal erschöpft ist, aber immer zu wenig Schlaf, immer im Stress, das geht nicht lange gut.
Zumal es wichtig ist, entspannt und auf Augenhöhe unterrichten zu können, haben die Schüler:innen selbstverständlich Mitspracherecht. Es ist erwiesen, dass in der Beziehung zwischen Lehrer:in und Schüler:in das größte Potential für die Lernmotivation steckt. Wichtig ist auch, dass man gut im Freestylen ist, improvisieren kann, wenn’s nötig ist.
Der alltägliche Mix in der Brigittenau
Mein großes Glück war, dass ich genau die Gruppe von Kindern unterrichten durfte, die ich unterrichten möchte: kunterbunt gemischt. Also viele unterschiedliche Familiensprachen, unterschiedliche Erstsprachen, Migrations- und Fluchthintergründe. Ein Mix, der in der Brigittenau, aber auch in Favoriten alltäglich ist.
Am Anfang habe ich gar nicht verstanden, dass ich in der Brigittenau bin. Alles hier ist genau so und schaut auch 1:1 so aus wie in Favoriten. Die Leute auf der Straße, die Verkäuferin beim Billa, die schönen Ecken des Bezirks und die schiachen. Und eben auch die Kinder. Ich liebe sie. Und ich hab mich auch genau deshalb vom ersten Tag an so wohl gefühlt hier. Inzwischen mag ich den Zwanzigsten fast genauso gern, wie den Zehnten. Das Einzige, warum Favoriten einen kleinen Tick cooler ist: Wir haben den Tichy und sein Eis.
Zu Hause in Favoriten
Ich bin in Favoriten zur Welt gekommen, bin da aufgewachsen und werde dort voraussichtlich sterben. Das ist meine Heimat. Ich wohne heute allein in der Wohnung, in der ich früher mit meinen Eltern gelebt habe. Im Neilreichviertel, also im tiefsten Favoriten. Kein Baum vor dem Haus. Und auch im Hof steht keiner. Aber vis-a-vis im Margarethe-Hilferding-Hof gibt es Bäume, die höher sind als das Gebäude. Wunderschön, die schaue ich oft an. Die Eltern sind inzwischen weitergezogen, ins „schöne“ Favoriten, zum Böhmischen Prater. Da siehst Du sogar Rehe vor dem Fenster.
Mein Vater hat deutsche Literatur studiert, meine Mutter auch. Er hat sein Studium abgeschlossen und in der Arbeiterkammer gearbeitet. Meine Mutter war Krankenschwester in der Klinik Favoriten. Beide stammen aus der Türkei. Zuhause sprechen sie Türkisch mit mir, ich spreche Deutsch mit ihnen. Ich hab da einen Knacks.
Eine Hierarchie der Sprachen
Anfang der Nuller-Jahre habe ich als Kind erlebt, wie das Türkische schlecht geredet wurde. Isst Du Schwein, darfst Du rein. Wien darf nicht Istanbul werden. Ich hab verstanden, dass Französisch und Spanisch weit oben sind, Türkisch aber ganz unten steht in der Sprach-Hierarchie. Unbewusst habe ich mein Hirn sehr deutschsprachig gepolt. Was mir bis heute Kritik einträgt. Türken, die kaum einen deutschen Satz schreiben könnten, kommentieren mein Türkisch ungeniert und streng als „kaputt“.
In meinem zweiten Unterrichtsjahr bin ich in einen großen Fettnapf getreten. Ich habe der Klasse Süßigkeiten mitgebracht, einen Sack Maoam. Aber die meisten haben das verweigert. Sie konnten das nicht essen, weil Gelatine drin ist. Daran hatte ich nicht gedacht, weil ich so gar nicht religiös erzogen wurde. Mitunter reagieren Schüler*innen auch erstaunt, dass ich nicht faste, nie Kopftuch getragen habe und Alkohol trinke. Da erwischt mich das othering von der anderen Seite. Viele Kinder sind eben sehr religiös.
Zum Schulschluss hat mir eine Schülerin geschrieben: „Sie haben uns klargemacht, dass jeder Mensch ein Mensch ist. Es gibt keine besseren und schlechteren.“ Das hat mich doch sehr gefreut und mir gezeigt, dass ich offenbar vieles richtig gemacht habe.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
(www.ernstschmiederer.com)
Link: https://www.gymnasium-am-augarten.at
Ernst Schmiederer ist Journalist, Verleger, Buchautor und Archivar. Er arbeitete für profil, die Zeit, das Schweizer Magazin „Facts“ und andere Medien. Er lebt in der Leopoldstadt und unterrichtet unter anderem an der Sigmund-Freud-Privatuniversität.