Im Novemberpogrom 1938 wurde die „Schiffschul“ völlig zerstört. Beim Versuch des Wiederaufbaus stößt der orthodoxe Verein „Adass Jisroel“ nun auf unerwartete Probleme.
Text und Fotos: Bernhard Odehnal

„Sehen Sie hier: Unser Projekt findet international viel Beachtung“. Sami Kern steht mitten in einer riesigen Baustelle in der Großen Schiffgasse und schlägt einen Aktenordner auf. Darin hat er in Klarsichthüllen Zeitungsartikel archiviert, aus London, aus New York und Tel Aviv. Alle berichten von einem kühnen Projekt in Wien: Dem Wiederaufbau der „Schiffschul“ – einer der großen Synagogen der Leopoldstadt, die in der Pogromnacht 1938 niedergebrannt wurde.
Spezielle Einrichtung für Orthodoxe
Kern ist Vizepräsident des jüdisch-orthodoxen Vereins „Adass Jisroel“, dem das Grundstück, auf dem die alte Synagoge stand, gehört. Die Baustelle, durch die mich Kern an diesem sonnigen Vormittag im September führt, ist freilich noch nicht das neue Gotteshaus. Hier entsteht ein Hotel. Der Rohbau steht, derzeit sind die Elektriker am Werk. Die Eröffnung ist für das kommende Frühjahr geplant. Betrieben wird das Haus mit 126 Zimmern, Restaurant und Bar nicht vom orthodoxen Verein selbst, sondern von der Hotelgruppe „Schani“. Sie wirbt mit einer „Oase, fernab vom hektischen Treiben der Innenstadt“.
Das Hotel soll allen Besucherinnen und Besuchern offenstehen. Teile davon sind speziell auch auf die Bedürfnisse jüdisch-orthodoxer Kundschaft ausgerichtet. Im ersten Untergeschoß liegt ein riesiger Kultur- Veranstaltungsraum. „Ein solcher Raum hat uns für unsere Feste bisher gefehlt“, sagt Sami Kern und zeigt in einer Broschüre die geplante Inneneinrichtung. An der Decke lassen drei Oberlichten die Sonnenstrahlen in das Innere. Eine Oberlichte lässt sich elektrisch öffnen. Das sei speziell für jüdische Hochzeiten gedacht, erklärt Kern: „Denn das Brautpaar muss unter freiem Himmel stehen“.
Zwei Ziegel der alten Synagoge
Dann führt mich Kern im Rohbau hinunter in das zweite Kellergeschoß, wo eine „Mikwe“ eingerichtet wird – ein Raum für das rituelle Bad, getrennt für Männer und Frauen. Um es mit Frischwasser zu versorgen, wurde eigens im Hof ein Brunnen gegraben.
Rund um diesen Brunnen ist jetzt noch Baumaterial gelagert. Kern zeigt auf den Boden: „Bei den Aushubarbeiten haben wir mehrere Ziegel der alten Synagoge gefunden. Sie tragen den typischen Stempel in der Mitte, den Doppeladler der Monarchie.“ Im März dieses Jahres wurde im Zuge einer Zeremonie ein Ziegelstein in das neue rituelle Bad einzementiert. Drei Generationen der Kerns waren anwesend. Den zweiten Ziegelstein bewahren sie noch auf – für seinen Platz im Fundament der neuen Synagoge.

Im Hof – genau dort, wo diese Synagoge einst stand – wird gerade ein Arkadengang fertiggestellt. Unter den Arkaden werden Gedenktafeln angebracht, „für jene Mitglieder unseres Vereins, die im Holocaust umgebracht wurden“.
Doch wo ist nun die neue Synagoge, die Schiffschul? Sie gibt es bis jetzt nur als Plan. „Für den Bau fehlen uns zwei Millionen Euro“, sagt Sami Kern.
Vorposten für ‚Jiddischkeit‘
Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten aus Galizien, Ungarn oder der Slowakei zugewanderte orthodoxe Juden ein erstes Bethaus in der Ankergasse (heute Hollandstraße). Doch die „Ankerschul“ war angesichts des massiven Zuzugs bald zu klein. So entstand 1864 in der benachbarten Großen Schiffgasse die „Schiffschul“. Ihr Bau war auch ein Manifest gegen liberale Tendenzen in der damaligen Israelitischen Kultusgemeinde. Die Schiffschul verstand sich als „mächtige Festung gegen Reform und Assimilation in Wien“ und als „Vorposten für ‚Jiddischkeit’“, wie die jüdische Kulturzeitschrift „David“ einen Bericht aus dem Eröffnungsjahr zitiert.
Im Novemberpogrom 1938 wurde wie alle Synagogen in der Leopoldstadt auch die Schiffschul komplett zerstört. Sami Kerns Vater Benno sah als junger Bursch den von den Nazis aufgehetzten Mob, der in die Synagoge eindrang, sie erst verwüstete und dann anzündete. Auch viele seiner nicht-jüdische Nachbarn aus dem Karmeliterviertel beteiligten sich damals an der Zerstörung.
Einziger Überlebender einer großen Familie
Benno Kern überlebte als einziger seiner großen Familie die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald und kehrte bald nach dem Krieg nach Wien zurück. Er lebt heute noch in jenem Haus, in dem er aufwuchs. Seine Erlebnisse in den Pogromtagen sind mehrfach festgehalten.
Ein langes Schriftband auf dem Asphalt der Fußgängerzone Im Werd zitiert seine Erinnerungen: Wie er 1938 auf dem Weg von der Schule nach Hause von Hitlerjungen verfolgt wurde, wie ihm der Kohlenhändler ein Bein stellte und er schwer verprügelt wurde. Zum 85. Jahrestag des Pogroms im November 2023 wurde Kern ins Parlament eingeladen. Ein Interview, das Mitarbeiterinnen der Parlamentsdirektion mit ihm geführt haben, ist auf YouTube zu sehen.

Die der Synagoge zur Straßenseite hin vorgelagerten Häuser in der Großen Schiffgasse 8 und 10 wurden in der Pogromnacht verschont und danach „arisiert“. Im Haus Nummer 8 richtete die Wehrmacht eine Schneiderei für Uniformen ein. In das Haus Nummer 10 schlug 1945 eine Fliegerbombe ein und zerstörte es. Bis vor wenigen Jahren war hier eine Baulücke mit einem Autoparkplatz. Von den großen, prachtvollen Synagogen in der Leopoldstadt und der Brigittenau ist keine einzige wieder aufgebaut worden. „Im Gegensatz zu Deutschland gab es in Österreich weder vom Bund noch der Stadt Wien daran Interesse“, sagt Sami Kern.
Neubeginn trotz staatlicher Schikanen
In die Große Schiffgasse Nummer 8 kehrten Samis Vater Benno Kern und weitere Mitglieder von Adass Jisroel schon 1947 zurück. Sie versuchten einen Neubeginn in ihrer Heimatstadt, obwohl sie sowohl von der Gemeinde Wien als auch vom sozialistischen Innenminister Oskar Helmer massiv schikaniert wurden. Dennoch entstanden in der Großen Schiffgasse erst eine Talmud-Tora-Schule und dann ein kleines Bethaus, das mit den Jahren immer größer wurde. Heute dehnt sich die provisorische Synagoge im Haus über zwei Stockwerke aus.
Seit gut 30 Jahren gibt es Pläne, in der Großen Schiffgasse nicht nur die 1938 zerstörte Synagoge wieder zu errichten, sondern auch ein religiöses, soziales und gesellschaftliches Zentrum der orthodoxen Juden in Wien zu bauen. In den 1990er Jahren suchte Benno Kern als Präsident von Adass Jisroel dafür um Unterstützung an – beim Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus, sowie bei der Gemeinde Wien. Er bekam Zusagen über 12 Millionen Schilling (was heute 872.000 Euro entspricht): 10 Millionen aus Wien und 2 Millionen vom Nationalfonds.
Wien: Keine Unterlagen, keine Auskunft
Tatsächlich habe die Gemeinde Wien überhaupt nichts gezahlt, sagt Sami Kern. Die Pressestelle der Wiener Finanzstadträtin Barbara Novak antwortet dazu auf die Anfrage von „Zwischenbrücken“: Da man keine Unterlagen und keine Zusage für eine finanzielle Unterstützung der Schiffschul vorliegen habe, „können wir Ihnen dazu keine Auskunft erteilen“.
Der Nationalfonds zahlte die Unterstützung zwar 1997 aus. Er forderte das Geld aber 2001 samt Zinsen wieder zurück, nachdem sich der Bau der Synagoge verzögert hatte. „Seither werden wir immer nur vertröstet“, sagt Kern. Statt des ursprünglich geplanten großen Gemeindezentrums musste der orthodoxe Verein deshalb das neue Haus als Hotel verpachten. Lediglich das Kellergeschoß ist den religiösen Ritualen vorbehalten.
Nationalfonds: Keine Entscheidung über Förderung
Der Pressesprecher des Nationalfonds, Peter Stadlbauer, bestätigt die damalige Rückforderung, „da der Fördernehmer das Projekt nicht umsetzen konnte“. 2024 sei ein neuerlicher Antrag zur Wiedererrichtung der Schiffschul mit einer höheren Fördersumme eingebracht worden: „Über diesen Antrag liegt derzeit noch keine Entscheidung vor“, so Stadlbauer.

Es gebe aber auch immer wieder Politiker quer durch die Parteienlandschaft, „welche sehr wohl für das Wiederaufleben der frommen jüdischen Gemeinde Verständnis haben und dies als Bereicherung für die Kulturstadt Wien betrachten“, betont Sami Kern. Und er nennt als Beispiele den ehemaligen, bereits verstorbenen Bezirksvorsteher Karlheinz Hora sowie den derzeitigen Amtsinhaber Alexander Nikolai.
Sobotka besuchte Baustelle
Im Februar 2024 besuchte der damalige Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka die Baustelle in der Großen Schiffgasse. Sobotka war damals auch Vorsitzender des Nationalfonds. „Nie wieder!“ schrieb er danach auf Instagram – und beteuerte, wie wichtig die Wiederherstellung der sakralen Bauten der Juden sei. Geld für die Schiffschul gab es bis jetzt trotzdem noch nicht.
Bernhard Odehnal lernte Journalismus bei der Stadtzeitung „Falter“ und war danach als Korrespondent und Reporter für österreichische und Schweizer Medien tätig. 2025 kehrt er mit der Gründung von „Zwischenbrücken“ in den Lokaljournalismus zurück. Er lebt in der Leopoldstadt.