Können denn ein Miniaturwald und ein paar Blumenbeete wirklich das Klima im Bezirk verbessern? Der Biodiversitätsforscher Franz Essl erklärt, wie es geht – und was noch fehlt.
Text: Naz Küçüktekin

Eine Pergola mit Bank, dahinter dicht gepflanzte Sträucher und junge Bäume: In der Pappenheimgasse wirkt das „Wiener Wäldchen“ wie ein Vorhang aus Natur zwischen den Häuserfassaden. Auf den knapp hundert Quadratmetern frisch gesetztem Grün stehen Klimastadtrat Jürgen Czernohorszky und Bezirksvorsteherin Christine Dubravac-Widholm bei ihrem Besuch Mitte August nebeneinander und blicken in die Kamera. Ein typisches Pressefoto, sorgfältig inszeniert als Lokalaugenschein, der das Projekt unter dem Schlagwort „Biodiversität“ in Szene setzt.
Wertvolle grüne Inseln
„Intakte Natur und Grünräume sind ein unverzichtbarer Teil der Lebensqualität in unserer Stadt. Mit den Wiener Wäldchen entstehen selbst in dicht bebauten Stadtteilen wertvolle grüne Inseln“, sagt Czernohorszky. Dubravac-Widholm ergänzt: „Ich freue mich sehr, dass hier in der Pappenheimgasse eine neue kleine Grünoase entstanden ist.“ Denn hier könne man an heißen Tagen „von der Kühlwirkung des Grüns profitieren.“
Im Regierungsprogramm der rot-pinken Wiener Koalition gibt es etliche Pläne, um Zwischenbrücken grüner und vielfältiger zu machen. Bereits seit dem Frühjahr läuft das von der EU geförderte Projekt „In der Jägerstraße blüht Nachbarschaft“, bei dem Anrainerinnen und Anrainer auf sehr schmalen Grünstreifen zwischen Gaußplatz und Wallensteinplatz Blumenbeete betreuen können. So werde das Grätzel lebendiger gestaltet und ein Beitrag zur Förderung der Artenvielfalt geleistet, heißt es in einer Aussendung der Bezirksvorstehung Brigittenau.
Für die nahe Zukunft wird darüber hinaus eine „grüne Achse“ entlang der Wallensteinstraße angekündigt. Im Nordbahnviertel sind acht „klimafitte Straßenzüge“ geplant, außerdem ein Biodiversitätskorridor zwischen Nordbahnhof, Nordwestbahnhof und Augarten.

Aber tagen kleine Begrünungen wie das „Wiener Wäldchen“ in der Brigittenau überhaupt zur Kühlung der Stadt bei? Oder sind sie, wie Kritiker behaupten, lediglich Pseudo-Maßnahmen? Was könnten ein paar Beete und grüne Korridore dem Hitzekoller der Stadt entgegensetzen?
Durchaus viel, antwortet Franz Essl, Biodiversitätsforscher an der Universität für Bodenkultur und „Wissenschaftler des Jahres 2022“: „Wenn es viele kleine Flächen gibt, die vielfältig bepflanzt sind, kann das eine ökologische Wirkung entfalten.“ Die Stadt sei eben kein homogener Raum, sagt Essl: „Sie besteht aus vielen kleinen, sehr unterschiedlichen Flächen. Das ist keine Schwäche – das ist die urbane Stärke.“ Denn gerade in der Dichte entstünden neue Nischen: Baumscheiben, Beete, Innenhöfe, Fassaden.
Extrem schnelles Artensterben
Zudem haben diese kleinen urbanen Grünräume einen unerwarteten Nebeneffekt: Den Erhalt und die Förderung der Artenvielfalt. ““Das Moasik an verschiedenen Flächen macht Städte oft artenreicher als viele Landschaften, die zwar grün aussehen, aber eintönig sind”, erklärt der Forscher. Und hier ist der Handlungsdruck mindestens ebenso groß wie bei der Erderwärmung. Weltweit verschwinden Arten in einem Tempo, das die Menschheit noch nie erlebt hat.
Nach Berechnungen des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) liegt das aktuelle Tempo des Artensterbens zehn- bis hundertmal über dem natürlichen Durchschnitt, rund eine Million Arten gelten als bedroht. In Europa bewertete die Europäische Umweltagentur 2020 mehr als 80 Prozent der geschützten Lebensräume als in schlechtem oder sehr schlechtem Zustand. Auch Österreich ist stark betroffen: Laut Umweltbundesamt gilt etwa ein Drittel der heimischen Tier- und Pflanzenarten als gefährdet. Neben Insekten sind auch Amphibien und Vögel betroffen.
Urbane Räume als Rettung
Damit verschwinden nicht nur einzelne Arten, sondern ganze ökologische Funktionen: Bestäubung, Bodenfruchtbarkeit, Hochwasserschutz. Kleine Grünflächen wie dem „Wiener Wäldchen“ in der Brigittenau würden deshalb nicht nur die Luftqualität verbessern, sagt Wiens Umweltstadt Jürgen Czernohorszky, „als Lebensräume für Pflanzen und Tiere tragen sie auch zum Erhalt der Artenvielfalt bei.“
Untersuchungen der Technischen Universität München und der Universität Lund belegen das: Urbane Räume können mehr Arten beherbergen, als bisher angenommen. In einer Vergleichsstudie fanden Forschende in Städten teils mehr Wildbienenarten als im Agrarland. Während dort dominieren Monokulturen dominieren, gibt es in Städten viele kleine, unterschiedlich bepflanzte Flächen.
Die Mauerbiene kommt in die Stadt
Auch seltene Insekten nutzen urbane Nischen: Mauerritzen, Brachflächen oder begrünte Fassaden werden zu Ersatzlebensräumen. In Berlin etwa konnte die seltene Mauerbiene Osmia spinulosa nachgewiesen werden, die andernorts kaum noch vorkommt. Selbst wärmeliebende Arten, die im Zuge der Klimakrise nach Norden wandern, finden in Städten Halt.
Was paradox klingt, wird so zu einem ernstzunehmenden Befund: Urbane Räume können zur Arche Noah für Biodiversität werden, nicht trotz, sondern wegen ihrer Strukturvielfalt. „Städte sollen in erster Linie Lebensraum für Menschen sein”, sagt Biodiversitätsforscher Franz Essl: „Aber wenn sich viele andere Arten darin wohlfühlen, dann fühlen sich auch meist die Menschen wohler”. Entscheidend sei, ob diese Vielfalt zugelassen und gefördert werde. Das heißt: Nur durch das Zusammenspiel vieler kleiner Projekte könnte eine spürbare Wirkung erzielt werden.

Ist das realistisch? In der Brigittenau gibt es zwar mehrere Begrünungs-Maßnahmen, doch dabei wurde kein einziger Quadratmeter Boden entsiegelt. Das von Umweltstadtrat und Bezirksvorsteherin hoch gelobte „Wiener Wäldchen” steht auf einer Fläche zwischen Gemeindebauten, die schon zuvor Wiese war. Die angrenzende Pappenheimgasse hingegen ist weiterhin Asphalt pur – mit überbreiten Fahrspuren und Autoparkplätzen, die weit in den Gehsteig hineinragen.
Mehr Leben in den Beeten
Auch die Nachbarschaftsbeete in der Jägerstraße sind extrem schmal gehalten, damit kein einziger Autoparkplatz verloren geht. Ein Erfolg sind sie bisher eher nicht. Ein Drittel der Beete steht leer und im Rest sehen die auf Schotterboden gepflanzten Blumen auch nicht gerade gesund und gepflegt aus.
Möglicherweise liegt das auch an der verunglückten Anlage der Gemeinschaftsflächen: Zum Gehsteig hin sind die Beete durch Holzzäune versperrt, von der Straße her sind sie aber kaum zugänglich, weil dort die Autos parken. Dennoch gibt die Bezirksvorstehung nicht auf: Auf Tafeln in den leeren Beeten werden Bewohnerinnen und Bewohner aufgefordert, sich an einer zweiten Bewerbungsrunde im Herbst zu beteiligen. Sie sollen mithelfen „die Beete zum Leben zu erwecken”.
Naz Küçüktekin hat journalistische Erfahrungen unter anderem bei Kurier, Profil und Biber gesammelt. Sie lebt in der Brigittenau hat mehrere Preise gewonnen, unter anderem den Wiener Journalismus-Gesundheitspreis.