In der Leopoldstadt haben die „Legionäre Christi“ ein spirituelles Zentrum eröffnet. Der Orden gibt sich ein modernes Image. Doch kann er damit seine dunkle Vergangenheit abschütteln?
Text: Bernhard Odehnal

Draußen rauscht der Autoverkehr auf drei Fahrspuren durch die Praterstraße, flitzen weiße Citybikes über den neuen Radweg, eilen Fußgänger zur nächsten U-Bahn-Station. Drinnen ist die Hektik wie verschwunden. Junge Menschen sitzen bei einem Café Latte vor ihren Laptops, an der Bar blubbert die Kaffeemaschine. Weiter hinten im Gebäude wird es noch stiller, dort sitzen Menschen betend oder meditierend vor einem Alter und einem großen Holzkreuz.
Religiöses Startup mit Podcast-Studio
Als „Ort der Begegnung, des Austauschs, des Gebets“ versteht sich das „Zentrum Johannes Paul II“, das Anfang Oktober in der Praterstraße 28 offiziell eröffnet wurde.
Das Zentrum versteht sich als religiöses Startup, das Jugendliche und junge Familien ansprechen will. Deshalb gibt es neben einer Kapelle (mit Kinderbetreuung) einen Musikproberaum, ein Podcast-Studio und Coworking-Plätze. In den oberen Stockwerken ist ein Hotel eingerichtet.
„Wir wollen einen neuen Weg gehen, wie man Kirche denken kann“, sagt David Schwarzbauer, der Pressesprecher des Zentrums. Nämlich: business-like, mit wirtschaftsenglischen Ausdrücken wie „core values“ oder „young professionals“. Das neue Zentrum will eine „life changing church“ sein.
Hinter dem Zentrum steht jedoch ein Orden, der zwar als einer der effizientesten, aber auch als einer der konservativsten in der katholischen Kirche gilt. Und der eine besonders dunkle Vergangenheit hat.
170 dokumentierte Missbrauchsfälle
Die „Legionäre Christi“ stehen im Mittelpunkt eines der größten Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche. Von den 1950er bis in die 1990er Jahren missbrauchten Priester und Seminaristen der Legionäre mindestens 170 Kinder und Jugendliche. Haupttäter war der aus Mexiko stammende Gründer des Ordens, Marcial Maciel Degallado. Ihm wurden an die 60 Missbrauchsfälle nachgewiesen.
Einige der von Maciel zu sexuellen Handlungen gezwungenen Jugendlichen wurden später selbst Priester und vergingen sich ebenfalls an Kindern. Auch andere Legionäre missbrauchten sowohl Buben als auch Mädchen. Die meisten Opfer kamen aus Mittel- und Südamerika und aus Spanien. Fälle in Österreich sind nicht bekannt.

Der Priester Maciel führte zudem ein Doppelleben. Er hatte mehrere Frauen und von diesen mehrere Kinder. Zum Teil lebte er mit diesen Frauen unter seinem falschen Namen José Dias. Seine eigenen Söhne sagten später aus, dass sie ebenfalls vom Vater missbraucht wurden.
In Mexiko sprachen erste Opfer Maciels schon in den 1990er Jahren über ihr Martyrium. Doch der Ordensgründer der Legionäre Christi blieb bis zu seinem Tod 2008 unbehelligt. Geschützt wurde er von Papst Johannes Paul II., der Maciel immer wieder persönlich empfing und sich mit ihm öffentlich zeigte.
Ein „Riesenfehler“ des Papstes
Warum hat Maciels Orden in Wien sein neues Zentrum in der Praterstraße nun ausgerechnet nach diesem Papst benannt? „Er ist immerhin ein kanonisierter Heiliger der Kirche. Und er hat uns in unserer Jugend sehr geprägt“, antwortet Pater Georg Rota, ein Legionär Christi und Co-Geschäftsführer des Zentrums. Dass sich Johannes Paul II. schützend vor Maciel gestellt habe, sei „aus heutiger Sicht natürlich ein Riesenfehler gewesen“, sagt Rota: „Er wusste von den Opfern, die Opfer haben sich an ihn gewendet, aber er hat ihnen offensichtlich kein Gehör und keinen Glauben geschenkt.”
Dem Zentrum den Namen des polnischen Papstes zu geben, sei aber kein Zynismus, sondern „eher eine Übernahme von Verantwortung, dass wir aus unserer eigenen Geschichte lernen und sagen: das darf nicht sich nicht wiederholen“, so Rota.
Tatsächlich begann die katholische Kirche unter Benedikt XVI, dem Nachfolger von Johannes Paul II., die Verbrechen der Legionäre zu untersuchen. Eine große Rolle spielte dabei allerdings der öffentliche Druck durch zahlreiche Medienberichte in den USA und Mexiko. Maciel durfte in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr öffentlich auftreten, er konnte aber ein unbeschwertes Leben führen, unbehelligt von kirchlicher und weltlicher Justiz.

Der Orden selbst spricht von „Erneuerung“ und einem „neuen Weg in unserer Geschichte“. Seit 2020 veröffentlicht er jährliche Reports über Missbrauchsfälle. Laut diesen Untersuchungen seien von 1941 bis heute 28 Priestern sexuelle Handlungen mit Minderjährigen nachgewiesen worden. Das entspricht 1,8 Prozent der insgesamt 1.479 Priester des Ordens. Kritiker halten die Zahl für viel zu niedrig. So schätzt man etwa in Deutschland, dass über 4 Prozent der Priester Minderjährige missbrauchten.
Zudem gibt es auch Kritik, dass von Seiten des Ordens zu geringe Entschädigungsgelder bezahlt wurde. Und das viel zu spät. Er wolle Entschädigung nicht auf den finanziellen Aspekt reduzieren, sagt dazu Pater Rota: „Was die Opfer vor allem wollen, ist: gehört werden und eine aufrichtige und ehrliche Entschuldigung.” Natürlich, fügt Rota hinzu, sei auch ein finanzieller Ausgleich notwendig.
Neue Doku über den „Wolf Gottes“
Vor allem in Lateinamerika ist die Aufklärung des Missbrauchsskandals längst nicht abgeschlossen. Diesen August strahlte der US-Streaming-Dienst HBO Max eine vierteilige mexikanische Dokumentation mit dem Titel „El Lobo de Dios“ (Der Wolf Gottes) aus. Der Titel erinnert nicht zufällig an den Spielfilm von Martin Scorsese: „The Wolf of Wall Street“, der den Aufstieg und Fall eines zutiefst korrupten und moralisch verkommenen Brokers zeigt. Denn in der Dokumentation über Maciel werden nicht nur die zahlreichen Missbrauchsfälle aufgerollt, sondern auch die Finanzgeschäfte des Ordens. „Im 20. Jahrhundert war Maciel der größte Kriminelle der katholischen Kirche. Und gleichzeitig ihr größer Spendensammler“, heißt es im Trailer zur Serie.

Marcial Maciel machte von Mexiko aus seinen Orden zu einem globalen Unternehmen und zu einer Wirtschaftsmacht innerhalb der katholischen Kirche. Heute haben die Legionäre Christi zusammen mit der ebenfalls von Maciel gegründeten Laienbewegung „Regnum Christi“ laut Wikipedia etwa 35.000 Mitglieder. Sie sind in 21 Ländern aktiv, betreiben Schulen, Universitäten, Hotels oder religiöse Zentren wie jenes in der Wiener Praterstraße.
Erst durch geleakte Geheimdokumente – die sogenannten „Pandora Papers“ und „Paradise Papers“ – erfuhr die Öffentlichkeit, dass Maciel und die Legionäre ihr Vermögen in Offshore-Paradiesen anlegte. Diese Geheimdokumente liegen auch „Zwischenbrücken“ vor.
Millionen auf Schweizer Konten
Laut einem Bericht des Schweizer „Tagesanzeiger“ von 2021 habe der Offshore-Anbieter „Asiaciti“ zwei Fonds verwaltet, die 2017 über 300 Millionen Dollar wert waren. Das Geld lag auf Konten bei vier Schweizer Banken. In katholischen Kreisen werden die Legionäre Christi wegen ihres Vermögens auch die „Millionäre Christi“ genannt. Der Orden dementierte danach in einer Stellungnahme die Recherche eher halbherzig: Die Fonds hätten an die Legion gespendet und seien von einem Priester der Legion gegründet worden. Aber es sei falsch, dass die Fonds der Legion Christi gehörten.
Schwere Vorwürfe erhob auch der mexikanische Journalist Raúl Olmos in seinem 2016 erschienen Buch „Das Finanzimperium der Legionäre Christi“. Maciel habe mit Briefkastenfirmen in Panama und auf den Bermudas ein wirtschaftliches Imperium aufgebaut. Diese Unternehmen hätten dann auch „in Waffen, Pornographie und Verhütungsmittel investiert“, so Olmos in einem Interview mit CNN. Maciel habe bei der Verwaltung der Finanzen keinerlei katholische Skrupel gehabt, zitiert Olmos einen ehemaligen Legionär, der Opfer von Vergewaltigungen wurde: „Er war das perfekte Beispiel für einen Mann, der dem Geld als dem wahren Gott huldigt.“
Was aber hat das alles mit dem Zentrum Johannes Paul II in der Leopoldstadt zu tun?
„Ein sicherer Ort für alle“
Niemanden, der heute im Zentrum tätig ist, wird eine Verbindung zu den Verbrechen der Legionäre vorgeworfen. „Wir wollen hier ein sicherer Ort für alle sein”, sagt Zentrumssprecher David Schwarzbauer. Er verweist auf ein umfangreiches Schutzkonzept und Präventionsschulungen.
Die Verbindung des Hauses mit den Legionären Christi ist weder vor Ort noch auf der Homepage auf den ersten Blick zu erkennen. Das Haus sei nicht mit Mitteln des Ordens, sondern mit privaten Spenden umgebaut worden, heißt es auf der Homepage des Zentrums. Auch Zentrumssprecher Schwarzbauer gibt regelmäßig einen kleinen Teil seines Gehalts. „Wir haben viele kleine Spender, aber auch mehrere Großspender aus Österreich, aus Spanien oder den USA“, sagt Schwarzbauer. Ordensmitglieder seien nicht dabei. Freilich: Das Haus wird von Ordenspriestern geführt, und es gehört den Legionären Christi.
In der Praterstraße 28 stand einst das erste Beauty-Hotel Wiens. Wo heute die Kapelle mit Kreuz und Altar eingerichtet ist, war früher der Swimmingpool. 2008 musste das Hotel schließen. Drei Jahre später kaufte der Hedgefonds-Gründer Christian Baha (Superfund) über seine „Smart Restaurant Beteiligungs GmbH“ das leere Haus um 3,1 Millionen Euro. Ein geplanter Umbau wurde nie umgesetzt.

2021 verkaufte Baha die Smart GmbH – samt dem Haus – weiter an die Legionäre Christi, laut deren Angaben um 8 Millionen Euro. Für den Kauf haben die österreichischen Legionäre zwei Immobilienfirmen gegründet. Sie gehören mehrheitlich dem „Verein Legionäre Christi“ in Düsseldorf. Das Zentrum steht also in deutschem Besitz.
Eine weitere Wergsteigerung fand mit dem Umbau statt. In den Büchern der Eigentümergesellschaft wurde das Haus an der Praterstraße 2023 mit 6,8 Millionen Euro bewertet. Ein Jahr später war es fast doppelt so viel wert: 12,3 Millionen. Pater Rota erklärt, dass die hohen Spendensummen große Investitionen ermöglichten. Er betont, dass man dabei alle Gesetze der Republik Österreich und alle Regeln der Banken sehr ernst nehme.
Villa mit Pool und Kino
Den Wert von Immobilien wusste schon Ordensgründer Maciel zu schätzen. Journalist Raúl Olmos widmet den Häuserkäufen in seinem Buch ein eigenes Kapitel: Die Legionäre Christi kauften exquisite Villen im italienischen Sorrent, in Kalifornien und Florida, so Olmos. Die Villa in Jacksonville (FL) hatte sieben Schlafzimmer, einen überdachten Swimmingpool und ein eigenes kleines Kino. Hier verbrachte Marcial Maciel seine letzten Lebensjahre. Er starb im Kreise seiner Anhänger. Am Sterbebett des verbrecherischen Priesters standen seine Frau Norma und die gemeinsame Tochter Normita.
Von einem Hang zum Luxus ist im neuen Zentrum der Legionäre in der Praterstraße nichts zu sehen. Die Einrichtung ist nüchtern und funktional gehalten, neue Medien und Digitalisierung stehen im Vordergrund. Im Café werden gerade Fotos für den Instagram-Kanal des Zentrums gemacht. Die Messen werden auf Bildschirme in den Nebenräumen übertragen, und in der Kapelle soll hinter dem Kreuz demnächst eine LED-Wand installiert werden. „Es wird die erste in einem Gotteshaus in Österreich“ sagt David Schwarzbauer.
Keine „billige Lösung“
Aber kann ein Erneuerungsprozess gelingen, wenn der Orden immer noch den alten, so eng mit Marcial Maciel verbundenen Namen trägt: Legionäre Christi? Wäre es nicht notwendig, nach der Aufarbeitung diesen Namen abzulegen?
Diese Frage habe sich auch das „Generalkapitel“, das oberste Gremium der Ordensgemeinschaft gestellt, antwortet Pater Rota. Und zwar schon 2014. Eine Antwort werde ordensintern weiterhin gesucht. Im Moment sei für eine Umbenennung noch nicht der richtige Zeitpunkt, so Rota: „Das würde zu sehr nach einer billigen Lösung aussehen. Als wollten wir die Fassade ändern und so tun, als wäre nichts gewesen.“
Bernhard Odehnal lernte Journalismus bei der Stadtzeitung „Falter“ und war danach als Korrespondent und Reporter für österreichische und Schweizer Medien tätig. 2025 kehrt er mit der Gründung von „Zwischenbrücken“ in den Lokaljournalismus zurück. Er lebt in der Leopoldstadt.
Gratulation, tolle Hintergrund Infos.